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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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und Verzweiflung, die sich plötzlich in ihr ausbreiteten, kannte nicht mal die simpelsten Regeln, die andere schon als Teenager lernen, die Hebel und Griffe, um ihre Gefühle im Zaum zu halten, hatte nicht gelernt, wie weit sie sich hinauswagen konnte, und wo die Strömung zu stark wurde, um alleine zu stehen. Sie verstand nicht, dass die Unendlichkeit des Schmerzes, der sie mit einer solchen Wucht mitriss, dass ihr all ihre schönen Überzeugungen unter den Fingern wegflutschten, eben doch ein Ende hatte, oder zumindest eins hätte haben können. Dass sie nicht im Schmerz verharren musste. Und sie hatte niemanden, der es ihr hätte erklären können. Sie war dem Angriff schutzlos ausgeliefert, und die Liebe nutzte ihre Schwäche aus, trieb sie vor sich her, als wolle sie sich für die Überheblichkeit rächen. Sie kämpften sich aneinander ab, machten es sich schwer, schwerer als nötig. Am Ende gewann meine Mutter. Zumindest glaubte sie das, auch wenn sie bis zuletzt darauf wartete, dass es sich endlich auch nach Sieg anfühlen würde.
    Das erste Mal trafen sie in der neunten Klasse aufeinander. Ein kurzer, schmerzhafter Zusammenstoß, der im Nachhinein heftiger wirkte, als er war. Der Junge selbst hat in ihrer Erinnerung nicht mal einen Namen hinterlassen, nur die Ahnung eines Gesichts. Und Finger mit weißen Kalkmangelflecken auf den Nägeln, die plötzlich ihren Arm packten und sie auf seinen Schoß zogen.
    Sie lernte ihn auf einer Party kennen, Fete damals, der ersten, zu der sie je eingeladen wurde, und auch das nur aus Versehen, weil ihr Banknachbar den Packen mit den Einladungen einfach weitergereicht hatte. Sie hatte eigentlich gar nicht hingehen wollen. Ihr graute vor dem Lärm und den Leuten und dem Lachen. Vor dem Dreck und den Drogen, die man ihr ins Getränk mischen könnte, um sie abhängig zu machen, wie sie das in der Zeitung gelesen hatte. Vor den anderen Gästen, vor den Dingen, die sie sagten, und denen, die sie taten. Vor allem miteinander. Auch davon hatte sie gelesen. Und sie machte den Fehler, das genauso zu sagen, in eben diesen Worten, »mir graut davor«, woraufhin mein Großvater »dir was?« schrie, in den Laden lief, der Schaufensterpuppe das Kleid aus- und es meiner Mutter anzog und sie ins Auto setzte, um sie zur Fete zu fahren. So sehr er Zusammenrottungen Halbwüchsiger auch hasste, Feigheit hasste er mehr.
    »Und’s wird Spaß gehabt! Dass das klar ist!«, rief er, während er den Schlüssel im Zündschloss drehte.
    Meine Großmutter steckte den Kopf durchs Autofenster und wischte zwei Küsse an den Wangen meiner Mutter ab. »Wird schon nicht so schlimm, wie du denkst«, flüsterte sie, bevor sie winkend in der verschneiten Einfahrt zurückblieb.
    »Recht hat sie gehabt«, stöhnte meine Mutter durch den Krebs, der auf ihre Lunge drückte. Sie lachte heiser, wie eine Schauspielerin mit zu großen Brüsten, wenn in den Regieanweisungen verbittert steht. »Es war schlimmer.« Und als würde das noch immer nicht reichen. »Viel schlimmer.«
    »Na komm«, erwiderte ich, »es war doch nur eine Party, ein einziger Abend.«
    Aber auch jetzt, Schläuche im Arm, Schläuche in der Brust, so schwach, dass sie nicht mal mehr alleine einen Löffel heben konnte, war sie nicht bereit, den Schmerz von damals zu verraten. Sie schaffte es kaum von einem Satz zum nächsten, ohne sich dazwischen zu schütteln, und dabei gleichzeitig die Schultern hoch- und den Mund aufzureißen, als habe sie eine Handvoll Pfefferkörner geschluckt. Die Milde des Alters, die den Erinnerungen angeblich die Schärfe nimmt, setzte bei meiner Mutter nie ein. Dafür war die Zeit, die ihr zum Altsein blieb, wohl auch zu kurz. Oder meine Mutter zu sehr meine Mutter.
    Sie wusste nicht, wie normal das alles war, das Sichfehlamplatzfühlen, das Anderssein. Und sie wollte es auch gar nicht wissen. Der Glaube daran, dass sie nichts mit ihrer Umwelt gemein hatte, war Teil dessen, was sie ausmachte, vielleicht der wichtigste. Das Ganze als eine Erfahrung unter vielen von vielen abzulegen, brachte sie nicht fertig. Mit einer unglaublichen Sturheit bestand sie auf der Schrecklichkeit des Abends, machte sie in ihrer Erinnerung immer größer, wie bei ihr eben alles großgemacht, großgeredet und großgedacht werden musste, um neben der Wagenladung an zerfetzten Gliedern, die meine Großeltern auffuhren, zu bestehen.
    Es begann damit, dass sie viel zu früh kam. Auf der Einladung hatte keine Uhrzeit gestanden. Als beim zweiten

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