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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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dabei in nichts nach. Nur wollte sie die Jugend nicht möglichst schnell durchschleusen, sondern gar nicht erst reinlassen. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen die Zeit, versuchte den letzten Rest Kindheit vor ihr zu bewahren, versteckte, was sich verstecken ließ, leugnete notfalls und sonst auch. Noch als meine Mutter 14 war, verbat sie ihr, im Bad abzuschließen, sagte »Soll dich etwa die Feuerwehr holen, wenn du allein nicht aufkriegst?« und benötigte mit schöner Regelmäßigkeit gerade dann etwas aus dem Medizinschränkchen, wenn meine Mutter aus der Dusche kam und sich abtrocknete. Meine Großmutter hängte sich sogar noch mehr an ihre Fersen als zuvor schon, folgte ihr überall hin, kam unvermittelt ins Zimmer geplatzt, als hoffe sie, die Frau, die in ihr heranwuchs, so zu erschrecken, dass sie sich nicht mehr heraustraute. Als meine Mutter trotz all ihrer Mühe dann doch ihre Periode bekam, riet sie ihr, sich einfach öfter zu waschen und ein paar Blatt Toilettenpapier zwischen die Beine zu stecken, das sei »bei dem Mückenschiss« ja wohl genug.
    Die ersten Monate waren die Hölle. Meine Mutter duschte zweimal täglich. Die Pausen verbrachte sie damit, sich auf der Toilette aus einer Sprudelflasche Wasser zwischen die Oberschenkel zu spritzen. Als einmal ein Junge vor ihr in die Knie ging, um sich die Schuhe zu binden, hatte sie solche Angst, er könnte etwas gerochen haben, dass sie zum ersten Mal im Leben die Schule schwänzte und nach Hause fuhr, um sich umzuziehen. Trotzdem musste sie erst ihre komplette Unterwäsche durchbluten, bevor meine Großmutter das Päckchen mit den Damenbinden freigab.
    Aber die Wascherei blieb, wurde sogar immer schlimmer, je älter sie wurde. Jeden Morgen, lange bevor mein Wecker klingelte, stand meine Mutter auf und versuchte, ihren Körper ungeschehen zu machen. Sie drehte die Dusche voll auf, so heiß, dass sie es gerade noch aushielt, und schrubbte sich die Nacht vom Körper. Sie spritzte und sprudelte und schäumte, hielt sich den Duschkopf zwischen die Pobacken, unter die Achseln, in die Ohren, in den Mund, gurgelte und spuckte, fuhr mit der Wurzelbürste zwischen Zehen und Finger, bis ihre Haut rot und fusslig war, wie Wäsche, wenn versehentlich ein Tempotaschentuch mit in die Trommel geraten ist. Und wenn sie endlich alles Unbeherrschbare, alles Wilde und Abgestorbene, Schweiß und Hautschüppchen, jedes Überbleibsel der Zersetzung abgeschmirgelt hatte, sodass ihr Körper nur noch eine spiegelglatte Fläche für ihren Verstand bot, machte sie mit der Wohnung weiter, die »vor Dreck stand«. Immer.
    Solange ich zu Hause lebte, war es schon ziemlich schlimm, aber als sie die beiden Zimmer endlich ganz für sich hatte, verwandelte sie sie in einen Ort völliger Sterilität, so sauber und kalt und zweckmäßig, dass sich niemand länger als nötig dort aufhalten wollte.
    Jahrelang war ich nicht mehr da gewesen. Als sie mich dann schließlich anrief und ich sie mitten in der Nacht zu mir holte, war ich zu abgelenkt von all den Tabletten, dem Infusionsständer, dem Sauerstoffgerät, von all diesen Requisiten der Krankheit, von der ich bis zu dem Zeitpunkt noch keine Ahnung gehabt hatte, um mich umzusehen.
    Erst als alles vorbei war, ging ich wieder in ihre Wohnung. Ich lief durch die kahlen, weißen Zimmer, in denen ich selbst groß geworden war, auf Zehenspitzen, als könne ich sonst jemanden erschrecken, dabei war ich es, die den Atem anhielt, so furchteinflößend war die Leere, die einen von allen Seiten bedrängte. Die einzigen Gegenstände, die in einem Glasschrank in der Küche standen, waren ihre Reiniger, fein säuberlich aufgereiht wie Souvenirs aus fremden Ländern. Die Flüssigkeiten waren bunt und grell, pink, neongrün, kreischgelb, auf den meisten Fläschchen prangten Totenköpfe.
    Ich ging in ihr Schlafzimmer und öffnete die Schränke, nahm eine ihrer Hosen vom Bügel und zog sie über meine Jeans. Der Bund reichte mir bis zur Brust. In den letzten Monaten war sie ziemlich dick geworden, hatte plötzlich gar nicht mehr aufhören können, alles in sich reinzustopfen, sie, die man das ganze Leben zum Essen hatte zwingen müssen  – nur um dann innerhalb weniger Wochen das ganze Gewicht wieder zu verlieren.
    Ich ließ den Stoff nach unten sinken und setzte mich aufs Bett, ein sehr schmales Bett, gerade mal 90 auf 200 Zentimeter. Ein Bett für eine Person. Eine, die sich keine Hoffnungen macht, dass sich daran noch mal etwas ändert. Oder besser:

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