Fünf Kopeken
keine Sorgen. Ich drückte die Nase in den Bezug. Es roch nach nichts, also wahrscheinlich nach ihr. Ein Geruch, der meinem eigenen zu ähnlich war, um ihn wahrzunehmen. Ich ließ den Blick über die weißen Wände gleiten, die weißen Schränke, den weißen Laminat, den sie über die schönen Dielen hatte legen lassen, weil in Rillen Krümel hätten rutschen können, zurück zur Hose vor mir, sah plötzlich den dunklen Schmutzrand, der um den Bund lief. Ich hob sie vom Boden und betrachtete sie genauer. Zog eine zweite aus dem Schrank, eine dritte, um sicherzugehen. Immer dasselbe. Schmutzränder, Flecken, manche waren richtig klebrig. Ich stand auf und hob den Stapel mit den T-Shirt s aus dem Regal, dann die wenigen Pullover, fand immer mehr Zeichen dafür, wie sehr sie offenbar schon abgebaut hatte, zuletzt sogar zwei getragene Unterhosen, ganz hinten im Eck, als habe sie sie dort versteckt. Sie muss solange gewartet haben, mir die Wahrheit über ihren Zustand zu sagen, bis sie überhaupt nicht mehr alleine zurechtkam.
Ich nahm eine Schere und begann, alles in quadratische Teile zu schneiden, Putzlappen für ein ganzes Leben. Dann ging ich ins Wohnzimmer und suchte dort weiter, auch wenn ich nicht genau wusste, wonach eigentlich. Wahrscheinlich einfach nach irgendetwas, das ich mitnehmen könnte, bevor die Wohltätigkeitsorganisation kam, die meine Großmutter in ihrem immer dringender werdenden Bedürfnis, vor dem Tod noch ein paar Punkte beim Herrn gutzumachen, aufgetan hatte, und die den Rest abholen sollte. Ich zog Ordner aus den Regalen, wühlte in ihren Unterlagen, riss Schubladen heraus, in der Hoffnung auf einen persönlichen Gegenstand, einen Briefbeschwerer, eine Lieblingstasse, irgendwelchen Nippes, wie er bei andern Leuten auf dem Fenstersims rumsteht. Aber natürlich fand ich nichts dergleichen. Natürlich stand bei meiner Mutter nichts rum. Natürlich gab es hier nichts, dessen Existenzberechtigung allein in einer sentimentalen Anhänglichkeit bestanden hätte. Meine Mutter hing ja an nichts. Abgesehen vielleicht von dem berauschenden Gefühl, sich des »Ballasts«, der bei ihr schon mit einem ans Telefon geklebten Notizzettel begann, zu entledigen. So unermüdlich meine Großmutter hortete, alles, Lebensmittel, Geld, Fett, man konnte ja nie wissen, wann der nächste Krieg ausbricht, so eifrig warf meine Mutter weg. Bei uns gab es keine Bilder, keine Magneten am Kühlschrank, keine windschiefe Tonschale. Selbst die Geschenke, die ich am Muttertag aus der Schule brachte, hielten sich nur ein paar Tage. Sobald sich auch nur ein bisschen was angesammelt hatte, nahm sie einen Müllsack und stopfte alles hinein, was nicht festgenagelt war, von einer unbändigen Lust getrieben, reinen Tisch zu machen. Sie wütete durchs Haus, bis ihr Blick nur noch über unverstellte Flächen glitt, auf denen nichts lag als Neuanfang.
Dieselbe Angst, die meine Großmutter hatte, das Gewonnene zu verlieren, hatte meine Mutter davor, das Verlorene wiederzufinden. Angst, von Erinnerungen überrollt zu werden. Angst, jede Nachlässigkeit, jeder noch so kleine Fehler könne ihr schön sortiertes, Kante auf Kante gefaltetes Leben noch mal durcheinanderbringen.
Ich ging also mit leeren Händen nach Hause. Hatte mich schon damit abgefunden, dass ich außer den paar Fotos, die meine Großmutter beizeiten gerettet hatte, eben kein Andenken kriegen würde, zumindest kein physisch greifbares, was ja eigentlich auch ganz gut zu meiner Mutter passte – als mir plötzlich wieder die Kette einfiel, die ich als Kind auf dem Speicher entdeckt hatte, am Boden eines Einmachglases, das bis zum Rand mit Reißnägeln gefüllt war. Damals war ich auf der Suche nach Material für eine Collage gewesen, die wir im Kunstunterricht machen mussten, und hatte nur so mit dem Glas herumgespielt, als der schimmernde Anhänger darin aufgeblitzt war. Beim Versuch, ihn herauszuziehen, hatte ich mir den ganzen Handrücken aufgerissen. Und wo das Ding nun schon mal raus war, hatte ich es nicht einfach oben liegen lassen wollen.
Ich lief zu meinem Nachttisch, kramte in meinem alten Schmuckkästchen und da, zwischen all den Ohrclips, die ich als Teenager trug, weil mir meine Mutter keine Löcher erlaubt hatte, war er tatsächlich, wenn auch mittlerweile etwas angelaufen. Ich musste ins Licht gehen, um zu sehen, dass es tatsächlich eine Münze war, in Silber gefasst, dabei wirkte sie eigentlich überhaupt nicht besonders, fast wie Spielgeld. Auf der
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