Fünf Kopeken
seltsame, verworrene Gedanken, meistens musste sie zweimal nachfragen, bis sie seine verschachtelten Fragen zwischen dem Dudelsackgeplärre verstand. Klug war er, ganz klar, und – »aber!« – trotzdem nicht unattraktiv, schmale Lippen, schwarze Locken, schwarze Augen, »nicht, dass das wichtig gewesen wäre!«
Er war der erste Mann, mit dem sie sich einen ganzen Abend unterhalten konnte, ohne sich zu langweilen, selbst wenn sie ihn auch mal was sagen ließ. Und als die Kellnerin gegen zwei oder drei Uhr morgens zwar noch immer nicht mit dem Notizblock zum Fehlernotieren, dafür aber mit der Bitte ankam, sie mögen doch jetzt endlich mal gehen, als sie sie nach dem letzten und allerletzten Gedanken, den meine Mutter noch schnell zu Ende führen wollte, Sekunde, ja, sofort, schließlich rausschmiss, sie sich lachend draußen wiederfanden und meine Mutter auch die andere Hälfte von dem verstand, was er sagte, merkte sie, dass er wirklich witzig war.
Sie drückten sich unter dem Hausdach rum, die Arme um den Bauch geschlungen, und wussten nicht, wie weitermachen, bis endlich eine dicke Amerikanerin hinter ihnen aus der Bar getaumelt kam, die so wunderbar laut und stumpf und ignorant war, wie man es sich in so einer Situation nur wünschen kann. Ein Fremdkörper, neben dem das kleine Häufchen Gemeinsamkeit, das sie in den letzten Stunden zusammengetragen hatten, plötzlich riesig wirkte. »Oh my Gosh, really?«, schrie die Amerikanerin, sie habe ja keine Ahnung gehabt, dass es auch in der » GDR « fließend warmes Wasser gegeben habe, »but didn’t you guys have communism?«
»Wir Deutschen … «, sagte meine Mutter.
»Also bei uns … «, sagte mein Vater und wagte sogar ein paar Mal, meine Mutter an sich zu ziehen, vergrub dann aber schnell wieder die Fäuste in den Taschen.
Er wollte sie unbedingt nach Hause bringen, weil er ja ganz in ihrer Nähe wohne, was nicht stimmte. Sie schlug vor, ein Taxi zu nehmen, was er sich weder leisten, noch das zugeben konnte. Die Nacht sei so schön, man könne doch zu Fuß, es sei denn, du bist zu müde? Womit er meine Mutter natürlich an der Angel hatte.
Sie liefen los, einen halben Meter Abstand voneinander, drehten sich bis zur ersten Kreuzung immer wieder nach der Amerikanerin um, die in die andere Richtung losgetorkelt war, ob die es denn überhaupt nach Hause schaffe, wer weiß, vielleicht wartet sie auf die Postkutsche! Lachten bis zur zweiten Kreuzung. Schmunzelten dem Bild bis zur dritten hinterher. Dann wurde es still. Mein Vater hatte solche Angst, kurz vorm Ziel etwas Falsches zu sagen und alles zu vermasseln, dass er lieber gar nichts sagte, was meine Mutter so verwirrte, dass sie gar nicht mehr aufhören konnte zu reden, in der Hoffnung, dass irgendetwas Richtiges dabei sei, während sie fast neben ihm herrennen musste. Für einen von seinen Schritten brauchte sie drei. Erst jetzt sah sie, wie groß er wirklich war. Beim Gehen zog er den Kopf ein, wie einer, der über Nacht in die Höhe geschossen ist und befürchtet, an der Decke anzustoßen.
Allmählich gingen meiner Mutter die Geschichten aus. Hinzu kam, dass sie tatsächlich hundemüde war. Um fünf Uhr aufgestanden. Vielleicht sogar schon um vier. Die Faktura gestartet, mit dem Lieferanten gestritten, die Fehler der tatsächlich vollends unfähigen Belegschaft ausgebügelt, acht Stunden gebüffelt und dazu das alles offenbar noch auswendig gelernt, um es mal der Tochter erzählen zu können, damit die auch ja nicht auf die Idee käme, man habe beim erstbesten Anwärter einfach so widerstandslos klein beigegeben, womöglich sogar jemanden zum Anlehnen gesucht. Was sie »rein physisch!« jetzt aber tatsächlich tat. So, so, so müde sei sie gewesen, »quasi besinnungslos!«
So war, wie ja zugegebenermaßen die Mehrzahl der ersten Küsse, auch der meiner Eltern in erster Linie ein Produkt von Erschöpfung. Irgendwann konnte meine Mutter einfach nicht mehr. Weitergehen. Die Augen offenhalten. Warten. Eine Hand vor dem Mund, um das Gähnen zu unterdrücken, lugte sie zu meinem Vater, der immer schneller wurde, sodass es von der Seite fast aussah, als würde er vornüberfallen. Er trat nur mit den Zehenspitzen auf, wie Schweine es tun. Dabei schlackerte er mit den Armen, die in einem gräulichen, leicht taillierten Jäckchen steckten. Am Kragen war ein kleiner schwarzer Fleck. Von der Zigarette einer schönen Frau, der er zu sehr auf die Pelle gerückt sei, wie er meiner Mutter ebenfalls noch in
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