Fünf Kopeken
derselben Nacht gestand. Die eigentlich schon längst der nächste Morgen war, so lange dauerte es, bis er sich an einer roten Ampel endlich ein Herz fasste und meine Mutter mit hängendem Kopf fragte, ob er sie womöglich küssen dürfe, so leise, dass sie sich nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Sie streckte das Kinn in die Höhe, schaffte noch ein »W«, aber bis zum »iebitte?« kam sie nicht mehr, da hatte er schon, freudig überrascht von dem Entgegenkommen, als das er den leicht geöffneten Mund interpretierte, seine Lippen auf ihre gedrückt. Ein Missverständnis, auch das, wie es am Anfang fast jeder Liebesgeschichte steht, das meine Mutter jedoch nicht aufklärte. Vielleicht weil sie das mit dem Durchhaltevermögen schon ahnte und den Eifer, mit dem seine Zunge durch ihren Mund schlingerte, nicht im Keim ersticken wollte. Vielleicht weil sie zu höflich war. Vielleicht, vielleicht sogar, weil es ihr ja eigentlich doch ganz gut gefiel, zumindest aber offenbar wieder ein bisschen Energie gab, denn wenn man ihr Glauben schenkt, machten sie an dieser Stelle, noch ehe die Ampel auf Grün sprang, kehrt und gingen zu ihm. Müdigkeit hin oder her.
Mein Vater hingegen behauptet, meine Mutter wie ein Gentleman nach Hause gebracht, am nächsten Tag in irgendeinen Tiefgang schwitzenden Film, dann auf eine Currywurst und erst nach weiteren Minuten, Stunden, Tagen der Verlegenheit in seine »Bude« eingeladen zu haben, was allein schon durch das Ausbleiben eines großmütterlichen Infarkts infolge des unangekündigten Wegbleibens meiner Mutter glaubwürdiger scheint. Auf jeden Fall schlugen sie, sei es nun noch am selben oder nächsten Morgen, in dieser Wohnung auf, die im Grunde nur ein winziger Raum mit Bett und Bücherstapeln statt Regalen, auf denen sich noch mehr Bücher stapelten, und einer sowohl fenster- als auch brillenlosen Toilette war, die von meinem Vater zärtlich Bad genannt wurde. Zum Duschen musste er ins Stadtbad. Wenn in der Nebenzelle das Licht angeschaltet wurde, ging es bei ihm aus.
Meine Mutter war so peinlich berührt, dass sie schnell ein bisschen von dem Ruß und der Kälte in ihrer Wohnung lamentierte, von dem Lärm und dem Geschrei, endlich bei den Nachbarn ankam, deren Geschichte sie mittlerweile ganz gut zusammen hatte. Offenbar war der Rauscheengeljunge, den die Nachbarn in all den Jahren nie anders als »den Pimpf« nannten, keine drei Monate vor dem Mauerfall gezeugt worden. Der Nachbarsmann hatte in einer Fabrik am Band gearbeitet, die Nachbarsfrau in der Buchhaltung. Ab Mittag war nichts mehr zu tun gewesen. Beide hatten sich gesehnt, sie nach Freiheit, nach dem Westen, nach Revolution. Er nach dem Feierabend. Beides schien in ziemlich weiter Ferne zu liegen, also hatten sie sich damit begnügt, sich auf der Toilette miteinander zu trösten. »Hätt ick dit jewusst. Drei Monate mehr und ick hätte hier weg jekonnt!«, äffte meine Mutter die Nachbarsfrau nach, »stattdessen hock ick hier mit dir fest.« Dann mit tieferer Stimme: »Meinste mir jefällt dit? Wat willste denn von mir hörn?« Wieder hoch: »Nüscht! Janüscht will ick von dir hörn! Ich wünschte, ick müsste nie wieda n Wort von dir hörn!«, und »mein Jott, wat kreischt er denn jetz schon wieda rum?«, wobei sie den Mund aufriss und andeutungsweise ein bisschen plärrte.
Aber auch ihre kleine Showeinlage vermochte meinem Vater nicht den schamvoll zwischen den Knien hängenden Kopf zu heben. Fast schien es ihr, als würde er immer weiter von ihr abrücken, und das Einzige, was ihr einfiel, um die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken, war, so viele Demütigungen wie möglich hineinzustopfen. Also tat sie genau das, selbst überrascht, wie leicht sie die Risse und Kratzer wiederfand, die sie sonst sogar vor sich selbst leugnete, den gescheiterten Abnabelungsversuch, die Arbeit, die ihr, ja, wenn sie ganz ehrlich sei, manchmal doch über den Kopf wachse, gerade letzte Woche die Null zuviel auf der Rechnung, die in Wahrheit, wahrscheinlich, sicher wüsste sie es nicht, aber doch womöglich gar nicht die Sekretärin dort hingeschrieben habe, und dabei immer diese Müdigkeit, von der, und nur von der, ihr endlich so die Stimme zitterte, dass Arno erstaunt aufschaute.
Er rutschte auf sie zu und nahm sie erst schüchtern, dann immer fester in die Arme. Aber jetzt war meine Mutter nicht mehr zu bremsen. Die plötzliche Lust sich zu offenbaren riss sie mit, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Sie
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