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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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er seiner Sehnsucht sogar mittags in ihr Büro, bis er schließlich dank eines plötzlichen Schneefalls gar nicht mehr ging.
    Die Stadt versank im grauen Matsch, die Leute brauchten Winterkleidung. Mein Großvater zwang seine Verkäuferinnen länger zu bleiben, aber mit der Tüchtigkeit der Pfälzer Fräuleins konnten sie es nicht aufnehmen. Als eine von ihnen sich schließlich erdreistete, mit flachen Schuhen zur Arbeit zu kommen, platzte ihm der Kragen. Er begann wie wild um sich zu feuern. Erst sie, dann eine zweite, die der Kollegin mit nach oben gereckter Faust beigesprungen war. Eine dritte, die sich weder auf die eine noch auf die andere Seite schlagen wollte, wegen Charakterlosigkeit.
    »Farbe bekennen, meine Damen!«, schrie er, was einige offenbar solcherart missverstanden, nun ihrerseits zu kündigen. »Du kriegst en Erich ausm Land, aber nich aus de Leut«, brüllte er, als er am Morgen vor verschlossenen Türen stand, weil die Frühschicht sich dem Klassenkampf angeschlossen hatte.
    Das Weihnachtsgeschäft stand vor der Tür. Er brauchte Hilfe, am besten zweisprachig, um das Vertrauen der »bis zur Lächerlichkeit auf Solidarität dressierten« Kundschaft zurückzugewinnen. Mein Vater kam da wie gerufen. Er bekam eine neue Frisur und eine Rasur, wurde gewaschen, poliert und in der Kinderabteilung postiert, wo er sich, diesmal vor allem zu seiner eigenen Überraschung, hervorragend machte. Die Kinder mochten ihn, weil er mit ihnen sprach und nicht mit den Müttern, die Mütter mochten ihn, weil sie das drollig fanden, Väter gab es damals noch nicht, zumindest nicht tagsüber.
    Als mein Großvater kurz vor Silvester beobachtete, wie Arno eine Kassiererin maßregelte, die nach dem Preis einer »Nietenhose« gefragt hatte, kommandierte er Helm kurzerhand auf einen der verwaisten Sekretärinnentische ab und quartierte stattdessen meinen Vater bei meiner Mutter ein, woraufhin der sein Studium endgültig vergaß und voll ins Schneider-Imperium einstieg, das er als Einziger auch dann noch so nannte, wenn mein Großvater nicht daneben stand.
    Er wurde zum leitenden Angestellten, dann zum Abteilungs-, schließlich wie gesagt zum Lagerleiter ernannt, was mit einem eigenen Ring klirrender Schlüssel belohnt wurde. »Dem Ehrenschlag«, wie meine Mutter sagte, als sie ihm den Gefängniswärterbund an den Gürtel klackte.
    So schafften sie es durchs erste Jahr, und nach den bereits erwähnten Trennungen, die jeweils kaum mehr als fünf Minuten dauerten, auch ins zweite Jahr  – was meinen Vater jedoch nicht dazu brachte, in seinem täglichen Bestreben, meine Mutter seiner Liebe, Treue, Aufopferung zu vergewissern, auch nur im Mindesten nachzulassen.
    Wenn einen jemand lange genug liebt, liebt man ihn am Ende entweder zurück oder man beginnt diesen Menschen zu hassen. Noch hatte meine Mutter sich nicht ganz entschieden.
    »Ich dich auch«, sagte Arno manchmal, wenn er ihr zum Abschied einen Kuss auf die Stirn drückte, und anfangs gefiel ihr auch das. Dass er sie nicht zwang, es selbst zu sagen. Dass er sie so gut kannte, dass er wusste, dass sie das Gleiche fühlte, von ganzem Kopf. Wie denn auch nicht? Er war ja perfekt, perfekt für sie.
    Morgens nahm er den Stapel mit den über Nacht eingegangenen Bestellungen von ihrem Tisch, mittags holte sie sich das, was er noch nicht geschafft hatte, zurück und legte ihm stattdessen ihre korrigierte Klausur hin, auf der eine weitere, dicke rote Eins prangte. Als sie mit dem Praktischen Jahr fertig war und mit der Vorbereitung aufs Staatsexamen begann, hatte sie zwei Stellen sicher, Universitätsklinikum oder Edelpraxis, sie brauche sich nur zu entscheiden. Und wenn sie sich zwischen einer dummen Kundin und einem strunzdummen Lieferanten mal schnell von meinem Vater in die Arme nehmen ließ, passierte es ihr tatsächlich manchmal, dass sie ausatmete und eine halbe Sekunde lang vergaß, einzuatmen.
    Das Glück biederte sich an und für einen Augenblick fühlte sie sich so sicher, dass sie vor Schreck fast aufgeschrien hätte, als die Liebe ihr plötzlich über den Rand der Zeitung hinweg in die Augen starrte.

6. Kapitel
    Sie saß in der U-Bahn, »was ja an sich schon Grund genug ist, dass einem mal ne Sicherung durchbrennt«, wie sie noch mal schnell anflickte. Aber das war dann fürs Erste ihre letzte Ausrede, denn mit Erklärungen war dieser Sache sowieso nicht beizukommen. Das wusste sie auch. Oder vielleicht wusste sie es auch nicht und dachte einfach, die Kulisse

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