Fünf Kopeken
Zeitung auf und die Augen nieder, verschwindet hinter einem zerknitterten Christdemokraten und zwei Kindern vor einer Ruine. Hunderte obdachlos nach Erdbeben in der Türkei. Die Bundesregierung hat Hilfsleistungen angekündigt. Sie glotzt auf die Buchstaben wie ein kleines Kind, das glaubt, wenn es sich die Augen zuhält, laufen die anderen an ihm vorbei. Liest einen Artikel, einen zweiten, selbst die Bildunterschriften, drei Mal, ohne ein Wort zu verstehen.
Die Bahn zieht nach links. Ihr Bein drückt gegen den Nachbarhintern, ein Ellenbogen stößt zurück, während sie sich mit dem Zeigefinger von Zeile zu Zeile hangelt, links, rechts, links. Mindestens vierhundert Todesopfer. Mit weiteren Erschütterungen muss gerechnet werden. Sie wischt sich eine Strähne aus dem Gesicht, steckt den Kopf zwischen die Seiten, aber seine Blicke rutschen keinen Millimeter von ihr ab. Wie ein Schlangenbiss bohren sie sich in den Streifen nackter Haut, der zwischen Kragen und Haaransatz schutzlos freiliegt.
Ein Arm stößt von hinten gegen die Zeitungsseite. Vom Geradeauskucken wird ihr ganz schwindelig.
Neue Verfassung in Burundi. Getty Pictures, der Präsident aus dem einen Land, in dem neulich diese Sache mit dem da aus dieser Stadt, zu Verhandlungen mit dem anderen, er starrt sie so an, dass sie sich selber sehen kann, in dem verbeulten Blazer, den aufgekratzten Pickel am Kinn, die Nase, die riesige Nase, und seine Blicke, wie ein brennender Ausschlag in ihrem Nacken, als würden sie mehr zu ihr gehören als zu ihm. Ihn sieht sie nicht.
Sie hält das letzte Wort am Gaumen fest, während sie umblättert. Keine Sekunde schließt sich die Zeitung, während sie mit dem linken Daumen die gezackten Ecken der rechten Seite auseinanderzieht, aber das reicht schon, dass ihr der Blick entgleitet, ganz kurz nur, ein Stück seiner Jacke, Stirn, Mund, kaum mehr als ein paar dunkle Flecken sind es, die an ihr vorbeihuschen, bevor sie die Zeitung wieder aufschlägt. Ihre Augen kriechen schnell unter eine Autobombe. Vertreter aller Parteien verurteilten den Anschlag scharf. Aber es ist zu spät.
Sie streicht wieder den Rock glatt, schiebt die Hand unter den Po, was will er denn von mir doch egal stimmt was nicht dass er denkt ich würde ihn ansehen, sie schlägt die Beine übereinander, reibt sich mit dem Ringfinger am Auge entlang, blinzelt, findet endlich die nächste Überschrift. Und verliert sie sofort wieder.
Die Türen öffnen sich.
Die Wand aus Rücken vor ihr wird noch dichter.
Musst du nicht hier? Scheiße! Ranzen links gegen Schulter, rechts ins Kreuz. Ein BimBamBino-Pullover taucht unter dem Gewimmel weg. Du Deppschepp! Tschüss, bis morgen.
Das Warnzeichen piept, dreimal, Zurückbleiben bitte!, die Türen schließen sich.
Die von der Europäischen Gemeinschaft in Klammern EG vermittelten Gespräche zwischen den drei Volksgruppen in der jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina werden in der Hauptstadt Sarajewo fortgesetzt. Bei den Verhandlungen über eine neue Verfassung, die die Rechte aller ethnischen Gruppen sicherstellen soll, werde der Botschafter, dessen Absätze suchen trippelnd nach Halt, die Multifunktionsweste fällt nach vorne, meine Mutter rutscht zur Seite, dreht unwillkürlich den Kopf in die andere Richtung. Er zuckt nicht mal, als ihre Blicke ineinanderrammen, als hätte er die ganze Zeit nur darauf gewartet.
Sie schaut zu Boden, während die Bahn wieder bremst, der Mantel neben ihr in die Höhe schießt, nach draußen läuft. Sein Bein streift nur ganz leicht ihren Oberschenkel, als er sich neben sie setzt.
Ihre Knie springen erschrocken zu Seite. Sie kreuzt die Arme vor dem Bauch, da, wo die Strumpfhose unter ihrem Rock das Fleisch zusammendrückt. Ihre Brust zieht sich zusammen. Vor den Fenstern wird es wieder schwarz.
Sein Oberkörper biegt sich nach vorne. Er riecht bitter, nach Schweiß oder Mann. Oder nach beidem.
Sie presst die Hand auf die Brust, spürt, wie er ihr sofort nachkommt, wie seine Augen ihren Fingern zum Ohr folgen, hinter das sie nervös ihre Haare streicht. Ihre Wange brennt.
Sie legt die Hand vor den Mund, drückt ihr Gesicht in die Finger, die Augen zu. Erst durch die geschlossenen Lider erlaubt sie sich, ihn anzusehen, legt die Bildschnipsel aneinander, die in ihren Augenwinkeln kleben, an den Kanten entlang, von außen nach innen, das kurz geschorene Haar, zu kurz, als dass sich die Farbe erkennen ließe, die Bartstoppeln, nur die Mitte bleibt verschwommen. Das Gesicht,
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