Fünf Kopeken
spreche für sich, da könne man sich den epischen Erzähler, der nach jedem Vorhang »schrecklich!« hinterherraunzt, auch mal sparen.
Ihre Arme lagen reglos neben der Körperwulst, die sich durch die Decke nach oben wölbte, sodass man die Kratzspuren sehen konnte, die sie sich nachts zufügte, wenn ich sie doch mal kurz allein ließ. Sie starrte geradeaus, während sie ungewohnt leise sprach und so gleichmäßig, dass ich ihn am Anfang beinahe überhört hätte.
»Willst du vielleicht mal ne Pause machen?«, fragte ich, weil mir kein anderer Grund als Müdigkeit für das plötzlich ganz dünn und schwach klingende Stimmchen aus ihrem Mund einfiel. Und auch, weil ich ja annahm, die Geschichte sei sowieso schon fast zu Ende. Vater war da, meine Geburt stand kurz bevor, wie es danach weiterging, wusste ich ja.
Aber sie sah nicht mal auf, um sich über die Unterstellung aufzuregen, redete einfach weiter, den Blick auf das kochweiße Laken gerichtet, das sich kaum von ihren Händen unterschied. Selbst die Probeprüfung an der Uni, wegen der sie in der Bahn saß, schon auf dem Nachhauseweg, blieb seltsam blass, »gut, ja, wie immer halt«, als seien ihr plötzlich die Ausrufezeichen ausgegangen.
Sie war in der Bahn. Irgendwo in Mitte, Friedrichstraße, Alexanderplatz. Freitagnachmittag. An der Tür drängelten sich Schüler, die mit ihren spitzkantigen Ranzen auf dem Rücken gegen die Umstehenden stießen, Hände legten sich schützend auf die getroffenen Stellen, Köpfe fuhren zischend herum. Könnt ihr vielleicht mal aufpassen? Ahso, und nochad miassa ma no ins Schloss Bäivüä. D’Frau vom Sigl Woifgang sogt, des is a Wohnsinn. Von fünf Händen umzingelte Straßenkarten, Regenschirme, Anzugbeine, in denen eine Faust nach dem Schlüssel tastete, Jungs, die die Beine nicht aneinanderkriegten, so groß war die Beule unter dem Reißverschluss, an die sie sich vorsichtshalber alle paar Sekunden fassten, um sicherzugehen, dass sie noch nicht abgefallen war. Und dazwischen meine Mutter, ganz hinten im Eck, vor lauter Menschen kaum zu sehen.
Die Türen schnappten zu, eine Frau mit Multifunktionsweste und Wanderschuhen warf sich gegen die Scheibe, lachte und keuchte und lachte. Sie streckte die Zunge aus dem Mund wie ein Hund. Irgendjemand erbarmte sich und lächelte zurück, jerade noch jeschafft, wa? Die Bahn ruckte an.
Ein Baby schrie. Die Frau stolperte, griff nach einer Stange, lachte wieder. Meine Mutter schaute auf.
Und da hat er sie.
Sie dreht den Kopf zur Seite, sieht an der roten Backe vorbei aus dem Fenster, als würde sie das da draußen interessieren, oh, ein Haus, ach was, gleich noch eins. Sie sieht den Fluss, in den es regnet, die Bötchen darauf und den leuchtenden Schriftzug am Steg. Die Buchstaben flackern vor ihren Augen wie Eisblumen.
An den Schlaufen vor ihr wackeln Menschen hin und her. Meine Mutter starrt an ihnen vorbei, sieht die verfallenen Hauswände, die Graffitis am obersten Stockwerk, sie reckt das Köpfchen als sei sie eine Touristin, betrachtet die Baumkronen, die schnurgeraden Autoreihen darunter, zwei in die eine, drei in die andere Richtung, wie Holzperlen in einem Rechenrahmen. Sie sieht die Köpfe am Fenster, Halbglatze, Strickmütze, zählt die Streifen bis zum Bommel, nur um irgendwas zu tun, die Anstecker auf der Jacke, sieht die Fingerabdrücke auf der Scheibe.
Ihn sieht sie nicht.
Nur seine Blicke sieht sie. Spürt sie, auf sich, was denn, wieso, fährt sich durchs Gesicht, über den Rock, das Haar, aber sie bleiben an ihr kleben, während sich die Bahn in die Kurve legt und in den Schacht rast.
Sie stiert geradeaus, sieht im letzten Licht irgendein Gekritzel an der Wand, make love not, ein rotes Warnlämpchen, und dann plötzlich sich selbst, die großen Augen, die sie aus der schwarzen Scheibe heraus anstarren, und dahinter vielleicht auch, ganz kurz nur …
Ihr Kopf fällt nach vorne.
An ihren Füßen gruschelt es herum, eine Plastiktüte knallt gegen ihr Bein. Sie hält den Henkel ihrer Tasche fest, während die Bahn bremst. Das Baby schreit noch immer.
Die Türen springen auf. Lärm drängt herein. Vielleicht bitte erstmal raus? Sie schaut auf die Füße, die vor ihr durcheinandertrippeln, zieht die Knie zur Seite. Erst jetzt merkt sie, dass sie zittern.
Hände tasten nach Stangen, Ärmeln, Lehnen, bleiben im Menschenknäuel stecken, warten Sie halt auf die nächste, Sie sehen doch, dass ich nicht weiter rein kann.
Die Türen schnappen zu.
Sie schlägt die
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