Fünf Kopeken
Briefkästen liegen. Geht weiter, während sie auf das Einrasten des Schlosses wartet. Sie ringt nach Luft, wischt sich die nassen Strähnen nach hinten, und da ist er, ein schwarzes Bein, mehr sieht sie nicht, bevor sie losrennt, jetzt wirklich rennt, durch den Innenhof, an den Mülltonnen vorbei, das Hämmern im Hals, im Kopf, im Mund, dem ein Schrei entfährt.
Sie stürzt die Treppen hinauf. Hält sich am Geländer fest, während sie mit der anderen Hand nach dem Schlüssel sucht, die Prospekte noch immer unterm Arm. Die Tasche knallt gegen ihr Knie. Ein Stockwerk. Noch eins. Das wirre Haar fällt ihr in die Augen. Sie fährt mit dem Arm in die Tasche, reißt wieder die Zeitung heraus, den Geldbeutel, klemmt sich den ganzen Kram zwischen die Beine, während sie weiterwühlt, endlich die zackige Metallkante spürt, die Hand aus dem Futter reißt. Der Schlüssel fällt ihr aus den Fingern. Sie zerrt die Fußmatte hoch, klopft mit den Handflächen auf die Dielen, ihre Oberschenkel, findet ihn schließlich, schließt die Tür auf und wirft sich von der anderen Seite dagegen. Die Klinke knallt gegen ihren Arm.
Sie hält den Atem an, der sich nicht anhalten lässt. Ihre Finger tasten nach dem Holz. Sie schaut durch den Türspion, sieht wie er auf sie zukommt, sieht die Hand am Geländer umgreifen, seinen gesenkten Kopf, dann die Schultern.
Sie weicht zurück, hört die Schritte, die immer näher kommen, das Knistern der Zeitung, die sie draußen liegen gelassen haben muss.
Ihre Hand schlägt ihr auf den Mund, während seine Schuhe an ihrer Tür vorbeigehen, weitergehen, die nächste Stufe betreten, immer weiter, das nächste Stockwerk hinauf, wo die Treppe noch so alt und morsch ist wie direkt nach der Wende und man jede Bewegung hört, die Dielen, die unter seinem Gewicht nachgeben, das Geländer, das Knarren, das sich allmählich entfernt. Eine Tür fällt ins Schloss. Dann ist es still.
Sie drückt sich zurück an den Spion, aber die Treppe liegt leer vor ihr.
Ihre Stirn sackt gegen die Tür. Sie drückt das Gesicht in die Handflächen, atmet in die warme Höhle. Ihr Herzschlag rast in ihren Fingerspitzen wie eine Mücke im Marmeladenglas. Was war das? War das? War er? Ist er also? Sie wischt sich das Haar hinter die Ohren, immer wieder, als könne sie das ganze Wirrwarr dort verstauen, fällt fast über die Sporttasche im Flur. Die Badehose quillt aus dem Inneren. Die Dusche rauscht.
Sie läuft ins Arbeitszimmer, zum Fenster, von dem aus man den Innenhof sehen kann. Die Fahrräder an der Hauswand schimmern im Schein des Lämpchens, das am Durchgang zum Vorderhaus schwächlich blinzelt.
Sie nimmt die Kopien, die sie am Morgen noch mal durchgesehen hat, vom Tisch und legt sie auf den Stuhl, schiebt das Knie auf die Schreibunterlage und sich hinterher, während ihr Blick die Stockwerke entlangfährt.
Aus dem Bad krächzt das wortlose Kinderenglisch meines Vaters, whawhawhuwhu, als hätte er eine heiße Kartoffel im Mund.
Sie stützt sich aufs Fensterbrett, drückt die Stirn an die Scheibe und schaut nach links. Sie sieht das weiß erleuchtete Treppenhaus durch die Glasbausteine, sucht die Fenster der Wohnungen ab, die nach rechts rausgehen, immer zwei große, doppelseitige, ein kleines schmales, und dann noch mal ein großes, genau wie die in ihrer Wohnung, nur spiegelverkehrt.
Ihre Finger spreizen sich auf dem Sims.
Sie hebt die Füße hoch, um die Tischplatte nicht dreckig zu machen, beugt sich noch weiter nach vorne.
Im Badezimmer wird die Dusche abgedreht. Das Krächzen wird lauter.
Das Lämpchen im Innenhof erlischt.
Das Treppenhaus wird ebenfalls dunkel, lässt das Haus schwarz zurück, als hätten ihn die Wände verschluckt.
Nur im Erdgeschoss flimmert es bläulich, wahrscheinlich ein Fernseher.
Und dann platzt plötzlich über ihr ein gelbes Quadrat aus der Finsternis, drittes Fenster von links, eins von den kleinen, im eins, zwei, drei, vierten Stockwerk, eines über ihr, darüber ist nur noch der Speicher.
Ein verschwommenes Dreieck taucht hinter dem Milchglas auf. Von oben gluckert die Klospülung. Sie glaubt, etwas Dunkles zu erkennen, eine schwarze Linie, die das Dreieck in der Mitte zerteilt. Sie presst den Kopf an die Scheibe, ihr Atem malt einen weißen Rahmen um das Bild, das ganz leicht vor und zurück schwankt, hin und her, plötzlich ganz nah kommt. Das Fenster kippt zurück, nur einen Spalt, Fliesen, etwas Rotes.
Ihre Hand fährt ihr vor die Augen, das grelle Licht sticht durch
Weitere Kostenlose Bücher