Fünf: Schwarzwald Thriller 1
sie keinen Bruder gehabt hätte, ja. Aber durch Andi war Uli immer sicher.« Darren stand mit dem Rücken zur Wand.
Katrin lächelte bitter, als ihr der Symbolgehalt seiner Haltung bewusst wurde.
»Warum ist es ihm so wichtig, dass die Kinder keine Geschwister haben?«
»Weil er selbst auch keine Geschwister hatte, vielleicht?« Katrin ging zu der Flipchart und schrieb das neue Stichwort unter die anderen.
Einzelkind.
Jedes noch so kleine Detail würde sie näher an die Identität des Serienmörders bringen.
Katrin rechnete mit den ersten BKA-Ergebnissen in den nächsten ein bis zwei Tagen, dann sollte ihr Profil so dicht sein, dass sie aus einer Gruppe das passende Individuum aussortieren könnten.
Es klopfte und noch bevor einer von ihnen »Herein« rufen konnte, wurde die Tür aufgerissen und Hauptkommissar Gerber stürmte herein.
»Wir haben ihn«, rief er aufgeregt und schlüpfte dabei in sein Jackett.
Katrin fühlte sich, als hätte sie einen Schlag direkt in den Magen erhalten.
»Wen haben sie?«, rief Horn aufgeregt. »Was ist mit Melissa, haben sie sie auch gefunden? Wo ist Melissa?«
Gerber, der schon wieder auf dem Weg nach draußen war, drehte sich noch einmal um. »Wir haben den Mörder von Julia Göggel gefunden. Was soll der Kerl mit dem Verschwinden von Melissa Wagner zu tun haben?«
Fassungslos starrte Katrin auf den Rücken des Kommissars, der so schnell verschwand, wie er hereingestürmt gekommen war.
Die Ignoranz, mit der die meisten ihrer Kollegen die These abwiegelten, dass es sich bei dem Mörder von Emma und Julia um dieselbe Person handeln könnte, schockierte sie immer und immer wieder aufs Neue. Und in der engen Zusammenarbeit mit Darren und Horn vergaß sie allzu schnell, dass sie mit ihrer Überzeugung allein dastanden.
Oder hatten sie sich tatsächlich geirrt?
Hatten sie sich vielleicht viel zu unkritisch Darrens Vermutung angeschlossen?
Steckten sie und Horn nicht beide gerade in ihren tiefsten Lebenskrisen und könnte es nicht sein, dass ihr Urteilsvermögen durch die Entwicklungen, die ihr Leben in den letzten Monaten genommen hatte, getrübt war?
»Wir sehen uns den Kerl mal an«, sagte Horn, als hätte er die gleichen Gedanken wie sie selbst gehabt.
Darren zeigte sich entschlossener. »Ich bleibe hier«, sagte er mit fester Stimme. »Ich glaube nicht an einen Einzeltäter. Wahrscheinlich haben sie irgendeinen Kerl erwischt, der, sowieso nicht ganz helle, als erster von der Dorfgemeinschaft verdächtigt worden ist. Das hat es so bereits in dreien der Fälle gegeben. Nach ein paar Tagen haben sie die Kerle alle wieder laufen lassen müssen, weil sich ihre Unschuld herausgestellt hatte.« Darren musste den Zweifel in Katrins Augen gesehen haben. »Ich kann dich verstehen, Katrin. Wirklich. Geh und schau ihn dir an. Bilde dir dein eigenes Urteil und dann kommst du wieder. Wenn du mir sagst, der Kerl ist schuldig, dann gebe ich auf. Aber wenn du zurückkommst und mir sagst, der Typ kann es unmöglich gewesen sein, dann bin ich hier.«
Seine Bereitschaft, sie gehen zu lassen, um es ihr zu ermöglichen, zurückzukommen, war nicht nur in diesem Fall der größte Beweis seiner Liebe zu ihr.
Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und lief Horn hinterher, der schon auf halbem Weg die Treppe runter war.
*
Vor dem kleinen Verlies blieb er stehen und lauschte angespannt. Er musste sich zurückhalten.
Die Kleine machte ihn an, lockte ihn, reizte ihn.
Aber wenn er jetzt Schwäche zeigte, wäre sein schöner Plan zunichte, oder? Du hast doch erst gehabt , schimpfte er mit dem Monster in seiner Brust, das er liebte und hasste zugleich.
Er hasste es dafür, dass es immer hungrig war. Nein, dachte er. Hungrig ist nicht das richtige Wort. Es war gierig. Gierig und unersättlich. Er wusste noch genau, wie alles angefangen hatte, aber warum es nicht aufgehört hatte, war ihm lange Zeit nicht klar gewesen.
Aber hätte es eigentlich anders kommen können?
Bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr hatte er acht verschiedene Waisenhäuser bewohnt. Immer musste er als gutes Beispiel dafür herhalten, wie viel man einer Kinderseele zumuten konnte, ohne dass sie offensichtlich Schaden nahm, denn er hatte ein angenehmes Wesen, gute Schulnoten und ein einnehmendes Äußeres. Das Monster, das in seinem Inneren tobte, konnte keiner sehen. Er hatte gelernt, es zu zügeln, es zu beherrschen, indem er ihm regelmäßig Nahrung gab, es nie vernachlässigte, nie vergaß, was er ihm
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