Fünf: Schwarzwald Thriller 1
wusste, dass bei kleinen Kindern gern mal die Fantasie durchbrach.
»Nun, jedenfalls ist Melissa verschwunden«, sagte Horn und klang so erschöpft, als hätte er ein Jahrhundert lang nicht geschlafen. Er hielt den Wagen und gleichzeitig öffneten sich beide Haustüren.
Aus der einen stürmte Uli heran, aus der anderen stürzte Melissas Mutter, Stephanie Wagner, auf sie zu.
Johanna, Horns Frau, kam ebenfalls zu ihnen heraus. Sie sah so schwach und zerbrechlich aus, dass Katrin sie am liebsten in ihr Bett zurückgetragen hätte.
Stephanie Wagners Gesicht war vom vielen Weinen rot und geschwollen. Ihre Haut musste entsetzlich brennen, wenn sie sich mit einem zusammengeknüllten Papiertaschentuch wieder und wieder über die Augenlider fuhr, um die Tränen zu verwischen, die nicht aufhörten, aus ihr herauszufließen.
»Mein Gott, Josef. Ich habe doch in der Zeitung über das kleine Mädchen aus Hüfingen gelesen, und wie oft habe ich Melissa eingebläut, ja nie in ein fremdes Auto zu steigen und nie, nie, nie mit jemandem mitzugehen, ohne Bescheid zu sagen.« Sie schluchzte krampfhaft. »Warum hast du sie nicht aufgehalten, Uli?«, rief sie plötzlich, packte Ulrike am Arm und schüttelte sie.
Josef Horn drängte sich bedächtig, aber entschieden zwischen seine Nachbarin und sein Kind und trennte die beiden. Dann gab er Johanna ein Zeichen, mit Uli zu verschwinden.
*
Er konnte nicht jedes fünfjährige Kind gebrauchen.
Es musste einer bestimmten Vorstellung entsprechen – seiner Vorstellung.
Eigentlich musste es sein, wie er gewesen war. Seine Kinder mussten lieb sein, durften keine Ahnung haben, dass die Welt nicht nur weich und rund war, sondern dass das Leben auch hart und kantig und schmerzhaft sein konnte.
Das sollten sie bei ihm lernen. Er war derjenige, der sie unterrichtete. Ihnen half kein Flehen, kein Betteln.
Das Leben nahm einfach keine Rücksicht auf das Weinen und Schluchzen eines kleinen Kindes. Noch nie hatte die Welt aufgehört sich zu drehen, nur weil irgendwo auf Gottes weiter Erde ein Kind weinte. Noch nie hatten Regierungen einen Krieg beendet, nur weil ein Kind um Frieden gefleht hatte, noch nie hatte der liebe Gott Eltern wieder lebendig gemacht, nur weil ein Kind sich verlassen gefühlt hatte, als es niemanden mehr hatte in der Welt.
Wenn sich nicht einmal Gott um das Weinen und Flehen und Betteln der Kinder scherte, warum sollte er es dann tun? Nein, ihre Tränen waren bei ihm nicht auf einen fruchtbaren Boden gefallen, ihre Schreie hatte er ignoriert, über ihre Gebete gelacht. Bis sie aufgehört hatten zu weinen und zu flehen und zu beten.
Und zu atmen.
*
Katrin legte ihren Arm um Stephanie Wagner und führte die verzweifelte Mutter langsam, aber bestimmt zu ihrem Haus zurück. Dabei erklärte sie ihr, wie sie weiter vorgehen würden. »Als erstes machen wir einen Presseaufruf, Frau Wagner. Gerade unmittelbar nach der Tat sind die Erinnerungen der Menschen noch frisch und sie können sich viel besser an Lackfarben, Fahrzeugtypen und sogar Kennzeichen erinnern als einen Tag später. Außerdem wird in wenigen Minuten eine Hundestaffel kommen und versuchen, Melissas Spuren zu folgen.
Gleichzeitig fliegen jetzt schon Hubschrauber mit Wärmebildkameras über die gesamten Felder und Wälder in der Umgebung, sodass wir sofort zugreifen können, falls der Täter sich mit ihr dort irgendwo versteckt hält.«
Stephanie Wagner war am Ende ihrer Kräfte. Dabei würde sie noch so viel mehr Kraft brauchen, denn Katrin hatte ziemlich wenig Hoffnung, dass sie Melissa auf diese Weise finden würden.
Den Autospuren würden die Hunde nicht lange folgen können, und dass das Versteck, in dem der Entführer die Kinder festhielt, irgendwo in einem Waldstück lag, hielt sie für ausgeschlossen. Sie hegte eher den Verdacht, dass das Versteck ähnlich angelegt sein würde wie im Fall des entführten österreichischen Mädchens. Sie brachte Stephanie Wagner in ihr Wohnzimmer. Auch hier fanden sich überall die Spuren eines liebevollen Zuhauses. Horn folgte ihnen.
»Ich möchte, dass Sie Uli und Andi befragen, Katrin. Vielleicht würden sie mir aus Angst davor, dass ich mit ihnen schimpfe, nicht die Wahrheit über das sagen, was auf dem Spielplatz vorgefallen ist.«
Katrin war schon aufgestanden.
»Seien Sie vorsichtig mit ihnen, Katrin. Es sind ja Kinder«, raunte er ihr ins Ohr, als sie neben ihm angekommen war.
Katrin nickte ernst und verließ das Haus. Draußen wartete Darren
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