Fünf Tanten und ein Halleluja
Möglichkeit dazu bekam.
Das Käthchen von Heilbronn ⦠Im Grunde war es die Rolle ihres Lebens gewesen. Als Kind hatte Claire nämlich immer geglaubt, nur zufällig in dieser Familie in Papenburg gelandet zu sein. Eine Verwechslung im Krankenhaus oder irgendein geheimer Plan, den sie nicht durchschaute. Ihre wirklichen Eltern mussten von viel edlerem Geschlecht sein, und sie lebten bestimmt in einem Schloss und verfügten über einen riesigen Hofstaat. Genau wie beim Käthchen von Heilbronn. Und ebenso wie das Käthchen glaubte Claire fest daran, dass sie den Richtigen sofort erkennen würde, wenn er auftauchte. Ein schöner Prinz auf einem Pferd, wie das Orakel es geweissagt hatte. Sie würde ihn sofort erkennen, und dann gäbe es kein Halten mehr. Dann würde sie ihm bis ans Ende der Welt folgen.
Doch als es so weit war, hatte Claire gekniffen. Sie war ihm nicht bis ans Ende der Welt gefolgt. Nicht einmal bis nach Berlin. Stattdessen war sie in Papenburg geblieben. Im wirklichen Leben war eben alles nicht so einfach. Sie besuchte da noch die Hauswirtschaftsschule, so wie es sich gehörte, und ihre Eltern bläuten ihr jeden Tag ein, sich solchen Unsinn aus dem Kopf zu schlagen. Denk an deine Zukunft, an ein sicheres Einkommen, an deine Rente.
Sie war in Papenburg geblieben und hatte den Bäckermeister Hartmut Wesseling geheiratet. Claire Wesseling, die Bäckersfrau. Wahrscheinlich war es das Beste gewesen. Hartmut war ihr ein guter Mann gewesen. Erst nach seinem Tod hatte Claire gemerkt, wie sehr sie ihn im Laufe der Jahre zu lieben gelernt hatte.
Dieser blöde Berlinbesuch. Er rührte nur an den alten Wunden. Sie hatte nicht damit gerechnet, diese Stadt je in ihrem Leben zu betreten. Nicht nachdem sie Anfang der Siebziger beschlossen hatte, in Papenburg zu bleiben und Hartmut zu heiraten. Damit war Berlin ein für allemal gestorben. Doch jetzt war Toni hierhergezogen, in diese Stadt ihrer Träume. Und sie musste sich mit ihren verpassten Chancen auseinandersetzen.
Jenseits der S-Bahn-Fenster zog die Stadtlandschaft vorüber. Claire hatte gar nicht gewusst, wie grün Berlin sein konnte. Ãberall Bäume und kleine Parks. An einem Sommertag wie diesem war die Stadt einfach wunderschön.
Der Zug war relativ leer, und die Schwestern hatten alle einen Platz am Fenster bekommen. Ebba und Immi saÃen etwas abseits über einen Stadtplan gebeugt und diskutierten den besten Weg zum Hotel. Helgas Augen lagen hinter ihrer Sonnenbrille verborgen, sie starrte gedankenverloren hinaus, und nur der Himmel wusste, was ihr gerade durch den Kopf gehen mochte. Kamilla schlieÃlich saà Claire gegenüber, eingeklemmt zwischen Koffern und Taschen. Sie hatte rote Wangen und wirkte entspannt â einer der wenigen Momente, in dem sie von keinem ihrer seltsamen Zwänge bedrängt wurde.
Nach der anfänglichen Hektik war eine gewisse Ruhe eingekehrt. Das Wiedersehen mit Toni war nicht so verlaufen, wie sie es sich erhofft hatten. Somit war die Stimmung etwas gedämpft.
Kamilla rückte ihre modische Brille zurecht und lächelte Claire mitfühlend an. Claire hatte sich immer am besten mit Toni verstanden, und Kamilla befürchtete wohl, dass das etwas misslungene Wiedersehen mit ihrem Neffen sie am meisten von allen bedrückte.
»Toni ist erwachsen geworden«, sagte sie tröstend.
»Ja, das ist er.« Mehr fiel Claire dazu nicht ein.
»Geht es dir gut?«, fragte Kamilla vorsichtig.
»Natürlich geht es mir gut.« Claire deutete mit einer unbestimmten Bewegung auf die Stadt hinter den Fenstern. »Das alles hier ist ja auch nicht meine Idee gewesen. Ich hatte keine besonderen Erwartungen an unser Treffen mit Toni.«
Kamilla dachte darüber nach. »Denkst du, unser Plan funktioniert nicht?«
»Ich weià es nicht. Ich weià nicht einmal, ob es richtig ist, was wir da vorhaben. Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns nicht in sein Leben einmischen.«
Kamilla lächelte. Es war ein tiefes, warmherziges Lächeln. Wenn ihre Zwänge fort waren, blieb nur noch ihr groÃes Herz übrig. Leider wurden diese Momente mit zunehmendem Alter immer seltener.
»Toni hat sonst niemanden«, sagte sie. »Nur uns. Und Versöhnung ist immer richtig.«
Gerade wollte Claire etwas erwidern, da machte Ebba auf sich aufmerksam. Im Grunde war es ja auch ein gutes Schlusswort, dachte Claire: Versöhnung ist immer
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