Fünf Tanten und ein Halleluja
zumindest an. Er wollte erst einmal alleine sein. Und nachdenken.
Er musste verdauen, was passiert war. Sein Vater war gar nicht sein Vater. Toni fühlte sich schutzlos dem Universum ausgeliefert. Er war verunsichert. Allein gelassen. Sein ganzes Leben war auf den Kopf gestellt, es war nichts mehr wie zuvor. Ihm waren die Wurzeln genommen worden. Er hatte jetzt kein Zuhause mehr.
Dabei sollte es im Grunde für ihn keine so groÃe Ãberraschung sein. Er hatte doch schon immer gespürt, dass etwas nicht stimmte. Schon als Kind war er ein AuÃenseiter gewesen. Er hatte nie so richtig reingepasst. Zwar hatte er sich andere Gründe dafür zurechtgelegt: seine Liebe zur Schauspielerei, seine Veranlagung, Männer zu lieben, und dann dieser Drang, aus der Provinz herauszumüssen. Aber offenbar lagen die wahren Gründe für dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, viel tiefer.
Eigentlich machte es die Sache einfacher für ihn. Er begriff nun. Sein Vater â oder der, von dem er geglaubt hatte, er wäre sein Vater â hatte ein fremdes Kind aufgezogen. Ein Kind, das die Frucht des Seitensprungs seiner Ehefrau war. Er musste es versorgen. Er musste ihm jeden Tag ins Gesicht blicken. Endlich begriff Toni, weshalb er immer so mürrisch gewesen war. Ein unfreundlicher und kaltherziger Mann, der ihn auf Distanz gehalten hatte.
Zu seiner Ãberraschung schmerzte ihn der Verlust seiner Tanten am meisten. Die schönsten Kindheitserinnerungen standen mit ihnen in Verbindung. Als er aus Papenburg fortgegangen war, hatte er seinen Tanten viel zu leichtfertig den Rücken gekehrt. Damals hatte er nur weggewollt. Er hatte die ganze spieÃige und langweilige Welt seiner Kindheit hinter sich lassen wollen. Doch jetzt schmerzte es ihn, das alles für so selbstverständlich genommen zu haben. Jetzt, wo er mit diesen Frauen nicht mehr verwandt war. Natürlich waren sie wegen Curt nach Berlin gekommen und nicht seinetwegen. Das war ja ganz normal. Jeder war in erster Linie für seine eigene Familie da. Und Toni gehörte nun mal nicht dazu.
Die StraÃenbahn rumpelte um eine Kurve, dann blieb sie am Endbahnhof stehen. Hier hörte die Plattenbausiedlung auf, dahinter begann ein Kiefernwald. Die Motoren wurden abgestellt, die Türen öffneten sich. Toni stieg aus. Er war am Ziel seiner Reise angelangt.
Aus seiner Hosentasche zog er die Karte hervor, auf der die Adresse notiert war. Nach dem Streit mit Tante Helga und Tante Kamilla war er noch mal in seine Wohnung zurückgekehrt und hatte verlangt: »Ihr sagt mir jetzt, wer mein Vater ist. Ich will wissen, wie er heiÃt und wo er wohnt. Sofort.« Und sie hatten es getan. Ohne zu zögern. Schweigend hatte Tante Helga einen Stift genommen und alles aufgeschrieben. Sie hatten also immer noch Kontakt zu ihm und wussten, wo er lebte.
Er wohnte in Berlin! War das zu glauben? Tonis Vater war in Berlin gewesen, die ganze Zeit über. Nur ein paar Kilometer Luftlinie von ihm entfernt. Da musste doch das Schicksal seine Hände im Spiel gehabt haben. Vielleicht war das ja der Grund gewesen, weshalb Toni schon immer unbedingt nach Berlin gewollt hatte. Eine Stimme hatte ihm das geflüstert, weil sein Vater hier lebte.
Eine Schönwetterwolke schob sich vor die Sonne. Toni überquerte die StraÃe. Er war angekommen. Vor ihm das Haus, in dem sein Vater wohnte. Der Hauseingang war voller Graffiti, eine Scheibe war eingeschlagen, und überall lag Müll herum. Toni studierte die Tafel mit den Namensschildern. Einige Namen waren überschrieben, mit Kaugummis verklebt und teilweise bis zur Unkenntlichkeit verkratzt. Doch da stand er, im achtzehnten Stockwerk: Gerd Kowalski.
Die Haustür war nicht verschlossen, und Toni konnte eintreten. Auch hier war alles voller Schmierereien, und es roch nach Urin. Der Fahrstuhl war auÃer Betrieb, so blieb ihm nichts anderes übrig, als das Treppenhaus zu nehmen. Es war ein langer Marsch bis ins achtzehnte Stockwerk, und oben angekommen, musste er erst einmal Luft holen. Vor ihm ein langer Korridor, an dessen Ende ein Fenster war. Dahinter der Himmel.
Was würde passieren, wenn sein Vater ihn sah? Würden sie sich erkennen, wenn sie sich gegenüberstanden? Würde er intuitiv wissen, dass es sein Sohn war, der da vor ihm stand? So wie das Schicksal Toni intuitiv nach Berlin hatte gehen lassen?
SchlieÃlich stand er vor der Tür seines Vaters. Seine Hände
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