Fünf Tanten und ein Halleluja
Dann tat Rainer, was er schon immer getan hatte, wenn eine Situation ihn überforderte. Er begann zu lachen. Er lachte und lachte, so sehr, dass der Wagen ins Schlingern geriet. Und Claire â sie saà einfach daneben und lachte mit. Sie konnte gar nicht anders. Was sollte man auch sonst tun in so einem Moment?
»Schön, dass du da bist«, sagte Rainer schlieÃlich.
Claire hätte gern seine Hand genommen. Aber das schien immer noch unmöglich. Beide scheuten die Berührung.
»Ja, ich finde es auch schön. Ich bin froh, dass wir den Bus verpasst haben.«
Rainer spazierte mit ihr über die Museumsinsel. Durch die Säulengänge der Alten Nationalgalerie, vorbei am Berliner Dom und an der Spree entlang. Die Nacht war voller Lichter, das Wasser glitzerte, die Luft duftete nach Sommer, und irgendwo spielte ein Saxofon. Es war eine Nacht für Verliebte.
Während sie durch die Stadt spazierten, redeten sie. Sie hatten viel Zeit. Erzählten sich ihr Leben. Alles, was in den vergangenen vierzig Jahren passiert war. Irgendwann verloren sie die Scheu und berührten sich. Zuerst fassten sie einander an, ganz zaghaft, dann gingen sie Arm in Arm, und schlieÃlich schlenderten sie eng umschlungen am Wasser entlang.
Rainer erzählte von seinem Leben in Berlin. Die Siebziger in der geteilten Stadt, die politisierte Jugendbewegung, seine Erfahrungen mit Drogen, das Experimentieren mit unterschiedlichen Lebensmodellen. Dann die Achtziger, die Zeit der besetzten Häuser und der StraÃenkämpfe, in der er als Journalist bei der »taz« arbeitete und mit zwei Frauen gleichzeitig zusammenlebte. Der Mauerfall und das neue Berlin. Und schlieÃlich seine Arbeit als Drehbuchautor fürs Fernsehen und der bescheidene Wohlstand, zu dem er es damit gebracht hatte.
Claire lauschte seiner Lebensgeschichte, die auch ihre hätte sein können. Und während er redete, war es, als hätte sie ein zweites Leben geführt: in den Siebzigern und Achtzigern, in dieser wilden Zeit in Westberlin. Weit weg von Papenburg und zusammen mit Rainer irgendwo in Kreuzberg. Zusammen mit der Liebe ihres Lebens.
»WeiÃt du, was ich mir damals für uns erträumt habe?«, fragte sie irgendwann. »Ich habe mir ausgemalt, wir würden ein Leben führen wie in Fellinis âºLa dolce vitaâ¹. Ich wäre Schauspielerin gewesen, mit groÃen Engagements beim Film, und du wärst ein Journalist, Tag und Nacht unterwegs für deine Reportagen. Ich habe mir vorgestellt, wir wären Bohemiens gewesen und in der ganzen Welt daheim. Wir hätten alles gemeinsam gemacht, Partys, meinetwegen auch Drogen, Liebe und Rock ânâ Roll. Wir hätten alles ausprobiert und keine Grenzen gekannt. Das war mein Traum. Für uns beide.«
»Ach, Claire.«
Jetzt waren sie sich ganz nah. Sie blieben stehen und hingen der verlorenen Zeit nach, ihrem verlorenen Leben. Alles, was hätte sein können, teilten sie in diesem stillen Moment. Trotz der Trauer wusste Claire nicht, wann sie das letzte Mal so glücklich gewesen war.
Hinter ihnen war das Rote Rathaus. Claire entdeckte den Poseidonbrunnen. Eine groÃe Fontäne wurde von Strahlern beleuchtet, das Wasser rauschte, und die feuchten übergroÃen Statuen glitzerten im hellen Licht.
Es war das süÃe Leben.
Plötzlich löste sie sich aus der Umarmung und lief zum Brunnen. Streifte die Sandalen ab und stieg vorsichtig über den Rand ins Becken. Das Wasser war eiskalt. Aber das störte sie nicht. Sie war jetzt Anita Ekberg, bewegte sich wiegend, aufreizend, genoss ihre Bühne, tauchte unter die Fontäne, lieà das Wasser über ihren Körper laufen, drehte sich dann zu Rainer und lachte, lachte.
»Marcello!«, rief sie. »Come here!«
In der StraÃenbahn ging es zu wie in einer fahrenden Schankwirtschaft. Partyleute auf dem Weg zu Klubs und Diskotheken. Bierflaschen wurden herumgereicht, Musik plärrte aus kleinen Lautsprechern, es herrschte überall gute Stimmung. Gestylte Frauen, hübsche Männer. Wo man hinsah, schöne und blutjunge Menschen. Kayla hatte ihre liebe Mühe, alle Tanten im überfüllten Zug unterzubringen.
Als sie eintraten, wurde das Durchschnittsalter um Jahrzehnte gehoben. Doch keiner nahm Notiz von ihnen. Auch das lautstarke Herumdiskutieren der Schwestern störte niemanden. Es ging im allgemeinen Geräuschpegel unter. Kayla stellte sich hinter
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