Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
besser gekannt hätte.
Kaum war der Angriff vorbei, wurden seine Bewacher wieder arrogant. Sie lieferten ihn im Barackenlager ab. Empfangen wurde er von einem Kerl, auf dessen gedrungenem Leib ein winziger Vogelkopf saß.
»Herzlich willkommen!« sagte er. Er war guter Laune. Es brachte Fährbach zunächst um die üblichen zehn Stockschläge. »Ich heiße Dreiling«, sagte der Hauptscharführer, griff nach einer Bierflasche, trank sie halb aus, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ich sage nie etwas zweimal. Wer meinen Befehl nicht ausführt, wird umgelegt. Du kannst drüben im Krematorium besichtigen, was von so einem Narren übrig bleibt, verstanden?«
»Jawohl, Herr Hauptscharführer!« brüllte Fährbach. Er hatte einen Vorsatz, einen Willen: zu überleben. Und er wußte, daß dieser Weg durch ein Fegefeuer von Demütigungen, Gemeinheiten, Verbrechen und Ungeheuerlichkeiten führen mußte. Fährbach hatte sich ein paar Sekunden Unbesonnenheit erlaubt und mußte es jetzt durch eine endlose Zeit hindurch mit Besonnenheit wiedergutmachen.
»Wie heißt du?«
»Georg Fährbach.«
»Was warst du?«
»Kapitänleutnant der Kriegsmarine.«
»Weia!« sagte der Vogelkopf. »Feiner Pinkel, was … Hast's mit der Frau vom Admiral getrieben?«
»Nein, Herr Hauptscharführer.«
»Mach die Klappe auf, Lump! Was hast du auf dem Kerbholz?«
»Ich habe dem stellvertretenden Gauleiter während einer Feierstunde ein paar Ohrfeigen versetzt.«
»Was, Mann? In die Fresse gehauen?«
»Jawohl, Herr Hauptscharführer.«
»Vor allen Leuten?«
»Jawohl, Herr Hauptscharführer.«
»Das ist 'n Ding!« Dreiling setzte die Flasche an den Mund. Die Brühe lief ihm links und rechts des Kinns herunter, an dem Spiegelkragen mit dem blechernen Totenkopf vorbei, den Hals hinab; aber er merkte es in seiner Begeisterung nicht.
Er schob Fährbach die Flasche zu und sagte: »Kann diese Kerle auch nicht leiden … na, ja, trink 'nen Schluck … Hast Schwein gehabt, gefällst mir.«
Fährbach ekelte vor der Flasche, an die der Vogelkopf eben den Mund gesetzt hatte, aber er trank sie aus.
Bei den letzten Worten des Hauptscharführers war Obersturmführer Krappmann eingetreten. Da der neue Häftling nicht herumgefahren war und sich gemeldet hatte, gab er ihm zunächst mal einen Fußtritt.
Fährbach sprang auf und ratterte seinen Spruch herunter.
»Er war 'n Marineoffizier, Obersturmführer«, nahm ihn der Vogelkopf in Schutz.
»Auch das noch … Konnte die Kerle noch nie ausstehen … Wegen ihnen haben wir schon den ersten Weltkrieg verloren. Auch so ein roter Meuterer, was?«
»Er hat 'nen Goldfasan verdroschen«, sagte Dreiling wichtig.
»Dem gewöhnen wir die Feinheiten noch ab«, versetzte Krappmann giftig. »Du magst ihn wohl, Dreiling?«
»Gefällt mir ganz gut.«
Der Obersturmführer grinste. Er trat an den strammstehenden Fährbach heran, tippte ihm mit dem Finger auf die Schulter und sagte: »Alle Tage ist kein Sonnenschein, merken Sie es sich gleich, Sie dreckiger Marinepinkel: Wen Dreiling mag, der ist bei mir automatisch in Verschiß … Warum stehen Sie noch?«
Fährbach warf sich auf den Boden.
Der Obersturmführer schlug ihm mit der Stiefelspitze in das Gesicht. »Hat's weh getan?«
»Nein, Herr Obersturmführer.«
Der Lagerhaftführer trat ihm mit voller Wucht ins Kreuz. »Hat's jetzt weh getan?«
»Jawohl, Herr Obersturmführer«, antwortete Fährbach.
»Dann wollen wir den Matrosen Arsch abhärten«, sagte Krappmann und trampelte mit beiden Stiefeln auf ihm herum.
Der Lagerhaftführer wurde früher müde als sein Opfer bewußtlos.
Georg Fährbach wurde kahlgeschoren, in eine verschmutzte Zebrakluft gesteckt; er erhielt Holzpantinen und wurde der Baracke V zugeteilt.
Keiner begrüßte ihn, keiner sagte etwas. Dabei beobachtete ihn jeder. Viele witterten den Außenseiter und haßten ihn, weil er kräftiger war als sie, weil er auch noch in Lumpen besser aussah, weil er nicht so verhungert wirkte, weil er, der Anfänger im KZ Neuengamme, noch Würde hatte.
Häftling Fährbach lernte rasch, was zu begreifen war. Er unterschied an ihren Farbwinkeln die Bibelforscher von den Homosexuellen, die Kriminellen von den Politischen. Er selbst trug Rot, es war der Adel des Lagers; er brachte auch die meisten Opfer. Normalerweise hätte er von einer unsichtbaren Gemeinschaft geschützt werden müssen; aber sie ließen ihn stehen. Man traute ihm nicht. Man hielt ihn für einen Spitzel. Die Roten waren
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