Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
vertraut. Am frühen Abend war alles erledigt.
Christian Straff geht zu Marion. Der Junge ist auf dem Bauernhof gut aufgehoben, schließt Bekanntschaft mit Katzen, Hunden, Pferden und Dorfkindern. Er hat kaum Zeit, Onkel Christian zu begrüßen, der ihn aus dem Tumult rettete.
»Ich glaube, hier seid ihr sicher«, sagt Christian zu Marion, »der Hauswirt war früher bei meiner Einheit … Auf ihn kannst du dich verlassen … Auf mich übrigens auch …«
»Aber Christian«, sagt Marion.
Sie hat noch das hübsche Timbre in der Stimme, denkt Christian, sogar wenn sie spricht. Sie ist älter und reifer geworden, aber es steht ihr gut. So arm Georg auch sein mag, er ist reich, so er noch lebt. Er hat diese Frau, von der man nur träumen kann, die um ihn bangt, die für ihn hofft, die um ihn kämpft.
Marion hat sich von den Strapazen der Flucht erholt, und sie ist hübsch anzusehen, fraulich, sogar wieder eine winzige Spur kokett. Sie ist so schön wie an unserem ersten Abend in Kiel, überlegt Christian; nein, sie ist viel schöner geworden, viel reifer, viel reicher. Nie wird es mir gelingen, eine Frau zu finden, die Marion ebenbürtig ist. Und eine andere möchte ich nicht haben; eine andere wäre Ersatz; Ersatz schmeckt wie Muckefuck, wie Kunsthonig …
»Wirst du wieder an der Oper singen … nach dem Krieg?«, fragt er Marion unvermittelt.
»Vielleicht«, erwidert sie, »aber wer weiß, wie es nach dem Krieg aussehen wird.«
»Halb so schlimm«, tröstet Christian Straff bewußt oberflächlich. »Aber wenigstens«, entgegnet Marion leise, »weiß ich dann, was mit … Georg …«
Sie selbst sagt das Stichwort. Einen Tag lang wartete Christian, der Freund, geduldig darauf, daß Marion von sich aus sprechen würde; einen Tag lang fragte er stumm und wich sie ihm aus.
Jetzt steht Marion auf, geht zur Tür, als fürchte sie einen Lauscher. »Ja«, sagt sie, »man hat es mir verboten, über ihn zu sprechen, und man hat mir gesagt, daß mein Schweigen die einzige Chance wäre …«
»Wer hat dir das verboten?« unterbricht sie Christian.
»Zuerst das Oberkommando der Marine. Damals wußte ich überhaupt noch nichts … Diese Leute setzten sich mit der Strafanstalt in Verbindung, diese verwies mich an die Reichsführung SS … Sonderfall, hieß es … Ein Korvettenkapitän, übrigens ein gemeinsamer Bekannter von uns, stellte die Verbindung zu einer Gestapo-Dienststelle her … Hier erfuhr ich, daß Georg … in ein Konzentrationslager überstellt wurde.«
»KZ?« fragt Straff und hadert mit sich, weil seine Stimme erschrocken klingt.
»Ja«, entgegnet Marion und sieht zu Boden.
»Aber das ist doch nicht so schlimm«, sagt er zögernd, als schritte seine Stimme über dünnes Eis.
»Meinst du?« fragt die junge Frau. »Man sagte mir, daß Georg büßen müsse … aber eine Chance hätte, wieder entlassen zu werden, falls ich mit niemandem über diesen Fall spräche … Es sollte nicht bekannt werden, daß ein dekorierter Frontsoldat … und so weiter, du kennst ja den Schmus … Ich habe mich bis jetzt daran gehalten.«
»Und wo ist Georg?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe nichts mehr von ihm gehört. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt. Seit über einem Jahr …«
Sie holten ihn am späten Abend im Zuchthaus ab. Sie waren zu zweit, rauchten und schwiegen. Die Nacht war finster; Nebelfetzen hüllten das Fahrzeug ein wie Leichentücher. Es war wie ein Symbol für die Zukunft des früheren Kaleu Fährbach: Nacht und Nebel …
Man hatte ihm lediglich eröffnet, daß er auf Anordnung der Reichsführung SS in das Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg zu überführen sei. Von Neuengamme hatte er nie etwas gehört. Von KZs wußte er lediglich, daß sie kein Honiglecken seien und sonst nicht mehr, wie die meisten Deutschen, wie zum Beispiel Marion, seine Frau, oder Christian, sein Freund.
Vor der Hansestadt geriet das Fahrzeug in einen Fliegerangriff. Er zog mit seinen beiden Bewachern in den Keller. Daneben schlugen Bomben ein. Die beiden Totenkopfleute waren nicht mehr schweigsam; sie redeten aus Angst. Sie sahen auch nicht mehr nach ihrem Häftling. Der Marineoffizier hätte fliehen können, aber er wollte es nicht. Er wollte Marion nicht noch mehr Kummer machen. Nur wegen ihr bereute er den Schlag in das Gesicht des betrunkenen Hoheitsträgers. Sonst hätte er gerne alle Tage Leute dieser Art verprügelt.
Vielleicht wäre Georg Fährbach doch geflohen, wenn er seine Zukunft
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