Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Entweder Sie haben bis dahin diese acht Burschen, einschließlich Kaulbach, umgelegt, oder Sie werden um 18 Uhr selbst fertiggemacht … Verstanden?«
»Jawohl, Herr Obersturmführer.«
»Und Sie stehen nicht mehr mit Glacehandschuhen unter dem Galgen … Sie haben Ihren Kopf genauso in der Schlinge wie ich … falls Sie bis dahin noch leben sollten.«
Georg Fährbach handelte wie ein Automat. Er meldete der heimlichen Lagerleitung sofort die neue Maßnahme, und er setzte hinzu, daß er auch nicht um den Preis seines Lebens den Befehl ausführen würde.
Das Komitee trat hinter der Bekleidungsbaracke zusammen. Die Männer hatten verbrauchte, abgespannte Gesichter. Nur Melber wirkte unbeteiligt und sachlich wie immer.
»Verstehe ja deine Hemmungen, Fährbach«, sagte er, »aber das ist natürlich Unfug … Du wirst niemals ein Dialektiker, dann sei wenigstens ein Praktiker.« Er sprach ohne Zynismus. »Diese acht Leute in der Quarantänebaracke … gehen sowieso drauf. Nicht nur die. Noch viel mehr … Du gehörst zu denen, die verhindern sollen, daß wir alle draufgehen. Was ist wichtiger: acht oder achttausend?«
»Es ist keine Frage der Zahl.«
»Idiot!« knurrte Melber. Er betrachtete die anderen. Der englische Major nickte, ohne Georg anzusehen. Der Kopf des italienischen Pfarrers hing nach unten wie gehängt. Der holländische Widerstandskämpfer betrachtete Georg frei.
»Es nützt nichts«, sagte erzwischen den Zähnen, »du mußt es schaffen … und jeder versteht es. Jeder würde an deiner Seile dasselbe …«
»Du auch?«
Der Häftling nickte schwer.
»Aber ich nicht.«
»Willst du durchkommen oder nicht?« fragte der französische Arzt. »Denk an deine Frau, an deinen Jungen …«
»Lass den Schmus«, versetzte Georg betont hart, weil er nicht weich werden wollte.
»Also?« fragte Melber fast drohend.
»Nein«, antwortete Georg Fährbach, der alte Michael Kohlhaas brach in ihm durch. »Diese Zeit hat aus mir einen Narren gemacht, der seine Haut für Verbrecher zum Markt trug. Sie haben mich degradiert, zu einem Zuchthäusler, und hier zu einem Sklaven gemacht.« Er sah von einem zum anderen. »Aber weder die Zeit … noch ihr werdet aus mir einen Mörder machen.«
Er stand auf und schlug die Tür hinter sich zu. Sein Zorn war verrauscht, sein Verstand arbeitete wieder. Hatte er noch eine Chance zu überleben? Würde nicht in ein paar Stunden alles vorbei sein? Jetzt mußte er nur noch sehen, wie er diese Zeit durchstand, ohne an Marion zu denken, an den kleinen Jürgen … und ohne verrückt zu werden.
Plötzlich weicht der Frost. Mit einem Zauberschlag durchbricht die Sonne den Nebel, wärmt die Erde, die golden schimmert, wie ein Hauch von Frühling, wie eine Ahnung von Frieden.
Jürgen, der Junge, hat sich mit den anderen Dorfkindern angefreundet und tobt lärmend über den Hof. Er hat rasch vergessen: die Strapazen auf dem Schiff, den seit 15 Monaten verschwundenen Vater. Sein kleines Gesicht ist erhitzt, seine Augen glänzen.
»Hüh«, schreit er einen anderen Jungen an, um dessen Arme er Schnüre wickelte, »hopp, Pferdchen!«
Der Briefträger kommt mit dem Fahrrad. Er lächelt der jungen Frau schon von weitem zu. Er hat zwei Briefe. Der eine kommt aus Kopenhagen. Christian Straff teilt Marion mit, daß sein Schiff, die ›Cap Arcona‹, die dänische Hauptstadt wider Erwarten mit eigener Kraft erreicht hat und seit 14 Tagen wegen Brennstoffmangels hier festliegt.
Er hat es geschafft, überlegt Marion und lächelt zärtlich. Und er hat es verdient. Er kann dort den Krieg überleben und kommt dann zurück, einer, wie sie Deutschland dringend nötig haben wird.
Der zweite Brief trägt in Maschinenschrift die Adresse eines befreundeten Bekannten, dem Marion mehr aus Gewohnheit in regelmäßigen Abständen schreibt. Als sie das Schreiben öffnet, merkt sie, daß es seinerseits einen Brief enthält.
Und diese Handschrift erkennt sie sofort.
Aber sie braucht nicht lange, bis sie mit dem freudigen Schock, mit dem lähmenden Schrecken fertig wird: Georgs Schrift.
Die Buchstaben zittern vor ihren Augen.
Es sind nur ein paar Zeilen, die vor ihr kreisen: daß Georg lebe, daß er gesund sei, daß er stets an sie denke und daß er durchkommen werde …
Er lebt, sagt sich Marion Fährbach, und durch den Tränenschleier sucht sie das Datum. Wenigstens, so ergänzt sie schon wieder traurig, lebte er noch am 11. April 1945 …
Die ›Cap Arcona‹ schaukelt sanft an der
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