Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Verbrecher über das Land, Hunderte, Tausende, eine ganze Armee im Sträflingskittel …
Irgendwo stößt Marion auf die erste Kolonne, sieht die Menschen, die geschlagen, gehetzt, angetrieben werden, die sich mechanisch wie Puppen bewegen, ausgezehrt, hohlwangig, dünn, Skelette, die man noch tritt, Totenschädel, auf die man mit dem Gewehrkolben einschlägt.
Einer bleibt liegen.
Ein blutjunger SS-Bursche von neunzehn zieht die Pistole.
»Nein!« schreit Marion und geht auf ihn zu.
»Sehen Sie bloß zu, daß Sie hier wegkommen, junge Frau.«
»Nein«, wiederholt Marion entsetzt.
»Los, steh auf!« fährt der Mann mit dem Totenkopf auf der Mütze den erschöpften Häftling an. »Ich hab's doch gleich gesagt … Hätten wir doch die ganze Rasselbande schon in Neuengamme mit den Baracken in die Luft gesprengt … Jetzt haben wir die …«
Alles dreht sich um Marion: Neuengamme – KZ – Baracken -Sprengung.
Alles dreht sich um sie und um Georg, als sie hofft und fürchtet, daß unter diesen gepeinigten, mißhandelten Häftlingen einer ist, der Georg Fährbach hieß, bevor er die Nummer 8.773 erhielt …
»Volle Deckung!« brüllt eine heisere Stimme.
Während Marion noch nichts begreift, schwirrt die erste ›Mosquito‹ im Tiefflug heran.
Bereits der erste Angriff der Tiefflieger löst den Klassenunterschied zwischen den ausgemergelten KZ-Sklaven und ihren antreibenden Bewachern sofort auf, denn zerfetzte Köpfe und zerschossene Herzen fragen nicht danach, ob sie zu einem Körper mit dem Blutgruppenzeichen der SS oder mit der eintätowierten Häftlingsnummer gehören.
Dieser Tod ist so uniform wie die Angst. Er hockt in den glitzernden Kanzeln der heranschwirrenden Maschinen, er sonnt sich in den Visieren der Bordkanonen, und er läßt sich Zeit: er ist ein Vielfraß, der nicht satt wird …
Plötzlich fallen die englischen Flugzeuge aus dem leuchtenden, lachenden Himmel wie ein dunkler, brummender Hornissenschwarm. Am Horizont steht keine Wolke, und auf der Ebene ist keine Deckung.
Gierig bohren sich die Schnauzen der Maschinen näher. Während einer Bodenschleife nehmen sie Maß von ihren Opfern, drehen ab, fliegen im Halbkreis, kommen wieder, da sie diesen Haufen Menschen, der von der Panik wie eine Schafherde aufeinandergepfercht wird, vermutlich für eine Marschkolonne der Wehrmacht halten, ein Ziel, das ihnen der sterbende Krieg nicht alle Tage bietet.
»Auseinander!« brüllt der Unterscharführer Heinrichs, der Führer des ersten Transports, der im KZ Neuengamme vor einer knappen Woche abging. Die Peiniger hasten von den Gepeinigten weg, als hätten sie nichts mehr mit ihnen zu tun.
Die Häftlinge begreifen langsam. Erst die Bordkanonen bringen ihnen die neue Variante des Sterbens bei.
Marion Fährbach, die von der Panik eingekeilt wird, sieht keine Flugzeuge und hört kein MG-Geknatter. Eben erfuhr sie, daß die hohlwangigen, gehetzten, geschlagenen Skelette unter der Zebrakleidung aus dem Lager Neuengamme kommen, und so steht sie hier, im Vorfeld des Todes, und verfolgt, wie sich der Tumult überschlägt, wie die Häftlinge gegeneinander rasen, sich mit dem Körper rammen, einander mit den Köpfen stoßen, wie ein Teil nach rechts, und der andere nach links drängt, wie die ausgemergelten Gestalten fallen und sich mit tierischer Kraft wieder hochziehen, wie in diese toten Marionetten letzten Endes Leben kommt, weil auch Skelette ordnungsgemäß sterben müssen, bevor sie ihren Frieden haben.
Die ersten beiden Tiefflieger sind über die Verwirrung hinweggegangen und haben ihre Todesspur rot markiert. Einen Moment lang übertönte das fetzende Motorengeräusch die Abschüsse der Kanonen und die jähen Schreie der Verwundeten.
Marion Fährbach steht noch immer, hört die entfesselten Schreie der Getroffenen, sieht die zuckenden Gesichter der Sterbenden, hört verschwommen, wie ihr ein SS-Mann zuruft: »Gehen Sie in Deckung, Sie …«
Deckung … Die junge Frau versteht das Wort, aber sie begreift seinen Sinn nicht. Deckung, was heißt das? Georg, überlegt sie, hier vielleicht, unter diesen Sklaven, verbraucht, verwundet, verhungert …
Georg, denkt Marion, als die nächsten vier Hornissen heranschweben. Sie sieht, wie die Kanzeln nach unten gestellt werden, wie die Aluminiumflächen giftig-bunt glänzen. Es sieht aus, als ob die gierigen Schnauzen es nur auf sie abgesehen hätten, auf diese junge, hübsche Frau, der der Krieg, für den sie nichts kann, schwer genug mitgespielt
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