Fünf
«Es war mir nicht möglich, Sie hinunterzutragen, ich musste sie schleifen. Ich fürchte, das ist nicht ohne blaue Flecken abgegangen.»
«Ja.» Stand er unter Schmerzmitteln? Vermutlich. «Ihnen geht es offenbar viel besser als noch vor kurzem. Als ich Sie im Krankenhaus gesehen habe, dachte ich –»
Ich dachte das, was ich denken sollte
. Beatrice ließ ihren Satz unvollendet.
Sigart kam ganz um den Tisch herum, rückte sich einen Stuhl zurecht und setzte sich. In seiner gesunden rechten Hand hielt er eine Pistole, die er nun auf die zerschrammte Tischplatte legte, die Mündung auf Beatrice gerichtet. «Ich bin froh, dass wir endlich unter vier Augen miteinander sprechen können.»
Das dumpfe, wattige Gefühl in ihrem Kopf war immer noch nicht völlig verschwunden. Was wollte Sigart von ihr?
Ich bin sein Publikum
, so hatte Kossar es ausgedrückt. Hoffentlich hatte er wenigstens damit recht gehabt.
«Sie wollen wahrscheinlich hören, dass ich überrascht bin», sagte sie. «Aber da muss ich Sie enttäuschen.» Sie hielt seinem Blick stand, obwohl nun erstmals die Angst ihre kalten Fühler nach ihrer Kehle ausstreckte. Welches Narkotikum Sigart ihr auch injiziert haben mochte, es verlor seine Wirkung.
Er neigte den Kopf. «Seit wann wissen Sie es?»
«Seit ich bei Ihnen im Krankenhaus war. Wir dachten immer, dass Sie fast tot sein müssten, bei den Mengen an Blut, die Sie verloren hatten. Bei einem Humanmediziner hätte ich vielleicht schon früher daran gedacht, aber Sie sind Tierarzt.» Sie sah ein Lächeln über sein Gesicht gleiten. «Trotzdem wissen Sie natürlich, wie man Blut abnimmt, wie die Konserven aufbewahrt werden müssen und wie groß die Blutmenge zu sein hat, damit wir die richtigen Schlüsse ziehen. Oder vielmehr die falschen. Was haben Sie verwendet, um die Schleifspuren im Treppenhaus herzustellen? Einen Sandsack?»
«So in etwa.»
«Sie waren so blass, von unserer ersten Begegnung an. Im Krankenhaus sahen Sie gesünder aus. Mehr Blut in den Venen als in den Wochen davor. Die Spritzmuster – haben Sie die Beutel zusammengepresst und angestochen?»
«Ganz recht. Bravo, Beatrice.»
Etwas in seiner Stimme gefiel ihr nicht, aber sie fuhr dennoch fort. «Sie wissen auch, wie man eine Lokalnarkose durchführt – wahrscheinlich besser als jeder Krankenhauschirurg, der dafür einen Anästhesisten zur Seite hat. Aber ich frage mich, wie sie es über sich gebracht haben, sich die Finger abzuhacken.»
Er hob die verbundene Hand ein wenig vom Tisch und legte sie behutsam wieder ab. «Indem ich mir diesen Moment vorgestellt habe. Sagen Sie mir, was Sie noch begriffen haben, Beatrice.»
Sie überlegte kurz. «Dass Sie von Evelyn wissen und denken, wir hätten eine Gemeinsamkeit. Schuld durch falsche Entscheidungen. Woher haben Sie Ihre Informationen?»
«Sie haben einen gesprächigen Bruder. Das wissen Sie sicher nicht, aber meine Frau und ich waren früher oft im Mooserhof essen. Wir haben den Fall um den Mord an Evelyn Rieger verfolgt, beide, und wussten von Ihrem Bruder, dass Sie mit ihr befreundet gewesen waren. Jedes Mal, wenn ich mich nach Ihnen erkundigt habe, hat er mir bereitwillig sein Herz ausgeschüttet. Er hat mir sogar Fotos von der Beerdigung gezeigt. Sie waren damals noch in Wien, versuchten wieder Boden unter die Füße zu bekommen, aber Ihr Bruder war überzeugt davon, dass Sie es nicht schaffen würden. Meine Frau und ich haben zu dieser Zeit viel über Schuldgefühle diskutiert.» Er senkte seinen Blick auf die beiden verbliebenen Finger seiner linken Hand. «Damals habe ich die übliche Position vertreten. Schuld hat der, der wissentlich jemandem Übles zufügt. Miriam war anderer Meinung. Sie sagte, Schuld trage nie nur einer alleine.»
Beatrice konnte beobachten, wie er in sich hineinhörte, sich die Stimme seiner Frau vergegenwärtigte.
«Nach ihrem Tod wusste ich, dass sie recht gehabt hatte. Ich trug Tonnen von Schuld. Meine falsche Entscheidung, meine verqueren Prioritäten. Sie kennen das, nicht wahr, Beatrice? Deshalb habe ich meinen Fall in Ihre Hände gelegt.»
«Wie soll ich das verstehen?»
«Ich habe sichergestellt, dass Sie Dienst hatten, als man Nora Papenberg fand. Das hat ihr einen zusätzlichen Lebenstag beschert.»
Einen Tag Angst und verzweifelte, sinnlose Hoffnung. Sie wünschte, er würde ihr ebenso viel Zeit lassen.
Halte mich auf dem Laufenden
, hatte Florin gesagt. Wann hatte er begonnen, mit ihrem Anruf zu rechnen? Nach einer Stunde? Nach
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