Fünf
Was ist dann nur so entsetzlich schiefgegangen?
«Estermann fluchte und schimpfte noch eine Zeit weiter, bepöbelte Miriam, plusterte sich auf – war aber allmählich bereit, sich auf den Rückweg zu machen.
Sie kann dich nicht anzeigen
, hatte Beil ihm immer wieder erklärt,
sie kennt deinen Namen nicht
. Das, sagte er mir in einem unserer langen Gespräche, musste auch Miriam mitbekommen haben. Sie sei bleich vor Wut aus dem Haus getreten und den Hang hinaufgelaufen, wobei sie verkündete, sie werde nun Hilfe bei den Nachbarn holen.»
Sigarts Stimme verebbte. Auf einmal wirkte er kleiner, gebeugter, wie in sich selbst versunken. Seine Pistole war nach wie vor auf Beatrice gerichtet, er stützte sie in seiner linken Armbeuge ab, da lag sie ruhig. Ein Schuss würde zweifellos sein Ziel treffen.
Trotzdem. Das ist die erste günstige Gelegenheit.
Sie atmete ein, spannte ihre Muskeln an, aber schon war Sigarts Aufmerksamkeit wieder ganz bei ihr, fast körperlich spürbar. «Nicht», sagte er. «Wir sind doch noch nicht fertig.»
«Natürlich. Das weiß ich.»
«Am Anfang, als ich nur Liebscher bei mir hatte und er mir erzählte, wie Miriam davongestürmt war, habe ich lange überlegt, ob das eine Erfindung oder wenigstens eine Übertreibung von ihm war. Um die eigene Verantwortung zu mildern. Später haben die anderen es ebenso geschildert, jeder von ihnen. Aber eigentlich wusste ich es gleich. Miriam war so. Immer direkt, ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn sie Ruhe gegeben und gewartet hätte, bis alle fort waren, oder wenn sie wenigstens nicht verkündet hätte, was sie tun wollte –»
Wenn.
Wenn ich nicht allein zu Sigart gefahren wäre.
Wenn die Kinder nicht bei Mama wären, wenn …
Sie hasste dieses Spiel. «Hat Estermann sie zurückgeholt?»
Etwas Fremdes glitt durch Sigarts Züge, nur für die Dauer eines Wimpernschlags. «Nein. Er hat sich Oscar geholt und ihm einen Daumen aufs Auge gelegt. Dort wollte er zudrücken, wenn Miriam nicht wieder in die Hütte zurückkam. Die anderen sagten, sie hätten ihn angefleht, diesen Wahnsinn bleibenzulassen. Melanie Dalamasso soll zu weinen begonnen haben, laut – zu laut für Estermanns Geschmack, und er verlangte, dass sie den Mund halten solle, sonst könne sie für den Kleinen schon mal eine Augenklappe stricken.»
Ein Auge für ein Auge, eingedrückt oder weggeätzt
. Beatrices Magen krampfte sich zusammen. Estermann hatte eigene Kinder gehabt, wie konnte er zu so etwas in der Lage sein? «Also ist Miriam zurückgekommen.»
«Natürlich. Estermann hat alle vier in die Hütte gesperrt und die Fensterläden vorgelegt. Hölzerne Fensterläden, grün-weiß lackiert. Von innen zu schließen, aber zusätzlich von außen zu verriegeln. Er machte alles dicht, dann setzte er sich neben den Brunnen. Beil sagte, er wirkte zum ersten Mal zufrieden.»
Sie hatte Estermann nur als Leiche gesehen, den fürchterlich zugerichteten toten Körper, aber nun musste sie aktiv gegen den Hass ankämpfen, der in ihr hochwallte.
Nein, lass dich nicht manipulieren. Estermann ist ein Opfer, so wie die anderen drei, die niemanden eingesperrt haben
.
«Zu diesem Zeitpunkt wurde es Papenberg zu viel. Sie erklärte, sie würde sich auf den Rückweg machen, und lief sofort los, ohne auf Liebscher zu achten, mit dem sie gekommen war und der nicht so schnell reagierte. Dalamasso rief ihr nach, sie solle die Polizei informieren, schnell. Laut Beil hielt sie sich die Ohren zu, um das Hämmern gegen die Wände und das Weinen der Kinder nicht hören zu müssen. Doch sobald jemand einen Schritt auf die Hütte zutat, stellte Estermann sich dazwischen. ‹Die kommen schon wieder raus, wenn die Alte ihre Lektion kapiert hat›, sagte er. Und erinnerte Beil daran, dass es auch in seinem Interesse wäre, diese unerfreuliche Sache ohne Einmischung von außen hinter sich zu bringen. ‹Oder glaubst du, deine Frau ist erfreut, wenn sie erfährt, dass du dir eine Jüngere gesucht hast?› Das, so erklärte er mir, hatte Beil nicht bedacht. Ebenso wie Nora hatte er es plötzlich eilig.» Sigarts Blick richtete sich auf den schmalen Weg, der oberhalb von ihnen vorbeiführte, auf den Weg, den auch Beatrice immer wieder fixierte, in der Hoffnung, das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge durch die Bäume dringen zu sehen.
«Nora hatte ihnen im Davonlaufen noch einige beruhigende Worte zugerufen, sie würde sich um Hilfe kümmern, keine Sorge, sie beeile sich. Beil stieß ins gleiche Horn, doch Melanie
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