Fuer den Rest des Lebens
mit geschlossenen Augen über die Straße geht, ohne Stock und ohne Blindenhund, nur sie und ihr Lebenswille, der von Minute zu Minute weiter erlischt, und sich in die Hand des Schicksals gibt, und sie fragt sich, ob die Hand des Schicksals kälter ist als die Hände der Menschen, die ihr am nächsten stehen.
Verwirrt sinkt sie auf eine Bank hinter dem Gehweg, unter einem Eukalyptusbaum, hält sich die Hände vors Gesicht, sie braucht Hilfe, sie braucht Hilfe und es gibt keinen, an den sie sich wenden kann, wie ist es passiert, dass auf einmal keiner da ist, der bereit ist, ihr zu helfen, und wie ist es passiert, dass sie die Freude am Leben verloren hat, dass sie meint, nur ein Kind könne sie ihr zurückbringen. Wieso ein Kind? Seit wann muss es ein Kind sein? Sie hat doch nie zu diesen Frauen gehört, den Gebärmaschinen, für die Kinder das Höchste sind. Im Gegenteil, diese Frauen haben sie immer abgestoßen, sie hat immer auf sie hinabgeschaut, was ist jetzt, in der Mitte ihres Lebens, mit ihr geschehen?
Naomi hat recht, Gideon hat recht, und Nizan hat recht. Sie sollte sich freuen über das, was sie hat, wie abstoßend ist doch diese Bitterkeit, die plötzlich gewachsen ist wie Brennnesseln in einem ordentlichen Blumenbeet, deshalb hilft ihr auch keiner, deshalb wollen sogar die Autos auf der Straße sie überfahren, deshalb muss sie jetzt aufstehen, sich in ihr Auto setzen, nach Hause fahren und an ihrer Dissertation weiterschreiben, sie muss sich um ihre kleine Familie kümmern und darf nicht den normalen Ablauf des Lebens stören, das wird sie tun, aber als sie aufzustehen versucht, wird sie von einem heftigen Schwindelgefühl gepackt, sodass sie auf die Bank zurücksinkt, ihre Hände zittern und sie schüttelt den Kopf, sie kapiert es nicht, es ist ein starker innerer Widerspruch, denn wenn sie wirklich ein Zuhause hat, warum sitzt sie dann am helllichten Nachmittag auf einer Bank wie eine Obdachlose, und wenn sie wirklich eine Familie hat, warum ruft sie jetzt keinen an, damit man sie holt, ins Bett legt und ihr etwas zu essen und zu trinken gibt, und sie tastet nach dem Handy in ihrer Tasche, sie wird Gideon anrufen, vor gar nicht langer Zeit hat er eine Fotoserie über Obdachlose gemacht, komm, fotografiere mich auch, wird sie sagen, aber sogar der Gedanke an die Zahlen, die sie tippen muss, um seine Telefonnummer zu wählen, weckt Widerwillen in ihr, es sind ärgerlicherweise keine geraden Zahlen, Sieben und Drei und Eins und Drei und Fünf und Neun, sie hat keine Kraft, sich seinen tadelnden Blicken zu stellen, sie braucht warmen Trost, überfließenden Trost, wie eine Tasse heißer Milch mitten in der Nacht.
Wie ruhig ist sie damals nach einem Gespräch mit ihrem Bruder wieder ins Bett gegangen, fast glücklich, so viele Jahre sind seither vergangen und die Entfremdung zwischen ihnen ist größer geworden, dennoch hat sie eine Erinnerung, eine reale Erinnerung, und sie blättert im Telefonverzeichnis ihres Handys bis zu seinem Namen, Avner Horowitz, sie hat sich die Mühe gemacht, auch den Nachnamen einzugeben, um die Distanz zwischen ihnen zu betonen, eine Distanz, auf die sie beide geachtet haben, sie haben sie gepflegt, als handle es sich um einen kostbaren Schatz, Avner, komm schnell, ich brauche dich.
Was ist passiert?, fragt er, ist etwas mit Mutter? Ich bin mitten in der Arbeit, und sie sagt, nein, Mutter ist in Ordnung, für ihn ist sie offenbar nur da, um Informationen über ihre Mutter zu liefern, und schon tut es ihr leid, ihn angerufen zu haben, sie möchte nicht, dass er gezwungenermaßen kommt, sondern aus freien Stücken, aus Liebe, aber woher soll plötzlich diese Liebe kommen, und schon zieht sie sich zurück, es ist nicht wichtig, Avner, ich komme zurecht, aber er fragt sofort, wo bist du?
Zu ihrem Erstaunen kommt er mit einem Taxi, und sogar sehr schnell, obwohl sie bereit war, lange auf ihn zu warten. Sie kauert mit übergeschlagenen Beinen auf der Bank, die Sonne bedeckt sie mit einer goldenen Decke, und für kurze Zeit spürt sie eine so angenehme Ruhe, wie schon lange nicht mehr, wie ein kleines Kind im Laufstall, das hinaufschaut in den Wipfel des Eukalyptusbaums, der sich zu ihm neigt, und unwillkürlich legt sie die Hand auf die Augen und vergnügt sich damit, sie wegzunehmen und wieder hinzulegen, wie vertraut waren ihr diese Bewegungen aus den Geschichten ihrer Mutter von dem Pfefferbaum mit den roten Früchten. Immer haben die Kindheitserinnerungen ihrer Mutter sie
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