Fuer den Rest des Lebens
ich fahre mit dir überall hin, wenn es nötig ist, und sie schüttelt den Kopf, du hast keine Ahnung, wie kompliziert es ist, ich kann wegen meiner Obsession doch keine Familie zerstören, ich muss darüber hinwegkommen und mich auf andere Dinge konzentrieren, ich werde eine Therapie anfangen, ich werde Yoga machen, ich suche mir eine Einrichtung, in der ich ehrenamtlich arbeiten kann, um mich nützlich zu fühlen.
Ach, Dini, er lacht, du hast Glück, dass du nicht in meinem Beruf arbeitest, du hättest keinen einzigen Prozess gewonnen, schau, wie du dich die ganze Zeit selbst belastest, sei still und lass mich dich kurz verteidigen, und sie schweigt dankbar und hört ihm mit glänzenden Augen und klopfendem Herzen zu, sie sitzt auf der Bank unter dem Baum mit dem brennenden Wipfel und trinkt durstig seine Worte, denn sie hat das Gefühl, dass er über eine andere Frau spricht, nicht über sie, eine mutige, großzügige Frau, die man gern kennenlernen würde, eine Frau, die von ihrer Mutter nicht gewollt war und die trotzdem für den Rest ihres Lebens ein kleines Kind in ihr Haus und in ihr Herz aufnehmen möchte, ein Kind, das von seiner Mutter ebenfalls nicht gewollt war, um es in Liebe aufzuziehen.
Wieder ist sie zu spät, wieder werden sie die schadenfrohen Blicke begleiten, was ist mit dir, Chemda, du kommst ständig zu spät zur Unterrichtsstunde, immer ist sie zu spät, als Schülerin und auch als Lehrerin, sie kommt zu spät zum Kuhstall, zu spät zum Hühnerstall, träumt zwischen den Beeten, kommt nur langsam vorwärts, provoziert unabsichtlich ihre heilige Kuh, die Kuh der Arbeit, die sie damals angebetet haben. Wer kommt zuerst zur Arbeit, wer hat keinen einzigen Arbeitstag versäumt, wessen Hände bewegen sich eifriger, wessen Körbe füllen sich schneller mit harten, unreifen Oliven, wer melkt mehr Kühe, wer fängt mehr Fische, wer jätet das Unkraut mit den flinken Fingern eines Pianisten, und ausgerechnet sie, die Tochter ihres Vaters, ist immer zu spät dran, die Letzte in der Reihe, die mit den leeren Körben.
Er war ihr Gewissen und ihr Kompass, aber sie versteckte sich vor diesem dornigen Leben. Jeder gibt nach seinen Fähigkeiten und jeder bekommt nach seinen Bedürfnissen, wiederholte er ihr ins Ohr, wir streben keine Gleichmacherei an, Gleichmacherei ist eine böse Krankheit, aber wie soll man wissen, wozu man fähig ist, und wie kann man seinen Bedürfnissen trauen? Man zwingt sich, man beißt die Zähne zusammen, denn man muss geben, was man kann, und immer scheint man mehr zu können, und was steht einem zu? Eigentlich gar nichts. Deshalb begnügte er sich mit dem Allerwenigsten, in seinen wenigen freien Stunden brachte er sich selbst Englisch bei, füllte ganze Hefte mit seiner schönen, kleinen Schrift, las philosophische Bücher, las Tolstoi, las Brenner, und sie wurde vor ihm zerquetscht, wurde vor aller Augen in diesem durchsichtigen Dampfkochtopf zerquetscht, beobachtet von Dutzenden prüfender Blicke, was sagt man über dich, was hat man gestern gesagt und was wird man morgen sagen?
Vielleicht ist diese Einstellung für Feierlichkeiten und für Trauerfälle gut, denn dann verdichtet sich dieser Druck zu einer umspannenden und stärkenden Existenz, aber im Alltag ist es unerträglich. Was hat man nicht alles über sie gesagt, sie sei faul, sie sei verwöhnt, sie träume, statt zu arbeiten, sie würde die anderen, die neben ihr arbeiten, ausnutzen, wie kommt so ein Vater zu so einer Tochter? Nun gut, ihr wundert euch, habt ihr vergessen, dass sie auch eine Mutter hat? Kein Wunder, dass ihr es vergessen habt, denn auch sie, die Ärmste, hat vergessen, dass sie eine Mutter hat, und die Mutter selbst hat vergessen, dass sie Mutter ist. Habt ihr sie gesehen? Kaum ist sie zurück, schon fährt sie wieder für ein Jahr nach Amerika, um Geld zu sammeln, während wir hier Blasen an den Händen bekommen. Das kommt dabei heraus, wenn eine Mutter schicke Kostüme trägt und sonntags in die Stadt fährt und donnerstags zurückkommt, im besten Fall, sofern sie überhaupt im Land ist. Das Mädchen ist zu bedauern, der Ehemann ist zu bedauern, und warum lässt er es überhaupt zu, warum weigert er sich nicht, die ganze Zeit allein zu sein, ein Strohwitwer. Aber sie war so stolz auf ihre Mutter, starr vor Staunen hörte sie zu, wenn sie von dem Vorbereitungscamp erzählte, das sie vor Jahren in Polen gegründet hatte, und davon, wie wichtig es sei, der jüdischen Jugend beizubringen, mit den
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