Fuer den Rest des Lebens
auch nicht sterben kann, denn wenn der Tod das Aufwachen aus dem Leben bedeutet, wie kann dann jemand aufwachen, der nie eingeschlafen ist? Könnte es nicht sein, dass sie in ihrem Leben tot ist und im Tod leben wird, denn manchmal sieht sie ihn als eine erhabenere Form des Lebens, ein körperloses Leben, und meint, vielleicht von Anfang an dazu bestimmt zu sein, zu sterben, denn seit sie sich erinnern kann, war ihr ihr Körper eine Last, seit ihr Vater sie geschlagen hatte, als sie sich weigerte zu laufen.
Ich bin zum Sterben bestimmt, murmelt sie, ich bin zum Sterben bestimmt, denn manchmal sehnt sie sich danach, sich von ihrem Körper zu trennen, der immer mehr zusammenschrumpft, von Tag zu Tag wird sie weniger, wird leicht wie ein Geist, bis es ihr scheint, als gäbe es für sie keine Schwerkraft mehr, als halte sie nur das Gewicht der Decke auf dem Bett, würde man sie wegnehmen, würde sie durch das Fenster davonfliegen, wie die ziehenden Störche. Sie hört, wie sie ihren Namen rufen, Chemda! Du bist es doch, die uns im blauen Herbst erwartet hat, dort im Schilf? Wie armselig seid ihr Menschen, verglichen mit uns Vögeln! Unseren Federn sieht man nicht an, wie viele Jahre vergangen sind, eure Haut wird von Jahr zu Jahr schäbiger, ist es das Bewusstsein, das die Jahre betont?
Chemda, du Ärmste, ein alt gewordenes Mädchen, hört sie in ihrem Flügelschlagen, auch damals hattest du nichts außer deinem See, den wir nach dir nannten, Chemda-See. Bald fliegst auch du am Himmel, du wirst über deinen Lieben kreisen und dich an nichts mehr erinnern, die Zeit geht vorbei, Chemda, erzähle ihnen jetzt die Geschichte deines Vaters und deiner Mutter, erzähle ihnen deine Geschichte, erzähle ihnen ihre Geschichte.
Beeilt euch, ihr seid spät dran, flüstert sie der Wolke aus Störchen zu, die zu ihr spricht, der Winter ist früh dieses Jahr, und ihr habt noch einen weiten Weg vor euch, bis in die heißen Länder, und sie antworten ihr im Chor, du musst dich ebenfalls beeilen, Chemda, dein Winter ist kalt und er ist der letzte, du wirst keinen anderen mehr haben, denn auch wenn du nicht gelebt hast, wirst du sterben. Erzähle, was du erzählen musst, was außer dir niemand wissen wird, und sie seufzt, aber wem soll ich es erzählen, seit Jahren versuche ich es und sie wollen mir nicht zuhören, und sie antworten, erzähl es dem Jungen, erzähl es dem neuen Jungen, der Ende des Winters kommen wird, wenn du schon nicht mehr hier sein wirst, er braucht Geschichten, er wird gierig danach sein, und sie meint, noch andere Stimmen zu hören, die Stimmen einer Frau und eines Mannes, die eng miteinander verbunden sind. Sind das ihr Vater und ihre Mutter, die gekommen sind, um sie zu holen? Noch ein bisschen, versucht sie zu rufen, ihr Herz klopft, ich habe das erste Wort noch nicht gefunden, mein Heft ist noch leer, aber als die Stimmen näher kommen, erkennt sie ihren Sohn und ihre Tochter, sie hört sie leise reden, nebenan in der Küche. Wie warm ihre Stimmen sind, sie spürt es bis ins Blut, noch nie hat sie sie so nah empfunden, noch nie hat sie sich so geliebt gefühlt, denn wenn sie sich lieben können, einer den anderen, dann fließt diese Liebe auch durch ihren Körper, der ihnen das Leben geschenkt hat, sie fühlt sich so geliebt, dass sie fast bereit ist, Abschied zu nehmen, aber nicht, bevor sie ihr Heft in den Händen hält, sie zieht es mühsam unter dem Kissen hervor, Dina Horowitz, 11. Klasse, Geschichte, steht darauf, mit blauer Schrift. Ihr Vater hat Verschwendung gehasst und hat immer ihre Hefte kontrolliert, um sich zu vergewissern, dass sie die Blätter auf beiden Seiten beschrieben und keine einzige Seite freigelassen hatte, auch sie hat manchmal die Hefte ihrer Kinder kontrolliert und ihnen Verschwendung vorgeworfen, bis Dina ihr eines Morgens wütend dieses Heft hingeknallt hatte und es so zu ihrem Besitz wurde.
Ein Finger tastet mühsam über die leeren Zeilen, sie sieht, wie sie sich mit Worten füllen, blau wie Flussarme, denn nicht nur die Geschichte des Sees wird niedergeschrieben, sondern auch die Geschichte seiner Flüsse, die Geschichte ihrer erwachsen gewordenen Kinder, ihrer Eltern, die wie Berge ihren Schatten auf das sterbende Wasser werfen. Ich werde anfangen und ihr werdet es weiterführen, sagt sie und schaut sich im Zimmer um, das plötzlich riesig ist, so groß, dass ihr Blick es kaum erfasst, ist das Zimmer gewachsen oder ist sie geschrumpft, schließlich ist es doch das
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