Fuer den Rest des Lebens
fährt vorsichtig, als wäre er ein neugeborenes Baby, das sie transportierte, er sieht, wie sie nach Hause kommen, sie trägt ihn in das Bett ihrer Liebkosungen und des guten Schlafs danach. Er sieht die Tage, die sie erwarten, in einer anderen Vergangenheit, als wäre er schon gestorben, die stillen, schweren Stunden, die weder zum Tag noch zur Nacht gehören, als wäre er schon vom Sonnensystem abgeschnitten, er sieht den Abschiedsschmerz der Seelen, einen bewegungslosen Tanz, ein lautloses Lied, und während er auf dem schmalen Bett liegt, betrachtet er seine Mutter, die neben ihm liegt, den leeren Stuhl, auf dem er gesessen hat, und weint wieder, aber er hat nichts, womit er sich die Tränen abwischen kann, sein Taschentuch steckt in ihrer Hosentasche. Die Tränen rollen aus seinen Augen und werden vom Laken aufgesogen, und es gibt auch niemanden, vor dem er sie verbergen müsste, denn es achtet sowieso keiner auf ihn, und die ganze Zeit betrachtet er den Korridor, vielleicht wird er sie wiedersehen, vielleicht hat sie Unterlagen hier zurückgelassen, vielleicht kommt sie ja hierher, um ihm seine Tränen zurückzugeben, und er kann ihr das Ende des Fadens aus dem Mund ziehen, mit dessen Hilfe er ihr Schicksal verfolgen kann. Für einen Moment fährt er erschrocken hoch, als in der Ferne ein rotes Licht aufleuchtet und erlischt und eine täuschende Traurigkeit zurücklässt, und er richtet sich mit klopfendem Herzen auf, als er eine weibliche Gestalt auf das Bett seiner Mutter zueilen sieht, aber es ist nicht sie, die großgewachsene, schmale Frau in der schwarzen Bluse und dem engen, natürlich ebenfalls schwarzen Rock ist seine Schwester Dina, die zwei Jahre älter ist als er, und obwohl er diesen ganzen Vormittag auf sie gewartet hat, damit sie es ihm ermöglicht, wegzugehen, zieht er den Vorhang vor, der sie trennt, legt den Kopf auf die Matratze und stellt sich schlafend, bevor sie ihn entdeckt.
Zweites Kapitel
Sie wusste, dass sie sich beeilen musste, in diesem Alter ist alles möglich, in einer Sekunde verabschiedet man sich von der Welt, sogar jene, die Jahre gezögert haben, sterben blitzschnell weg, wie Gäste, die sich bei einer Feier festsetzen und ihren Gastgebern zur Last fallen und plötzlich verschwinden, unhöflich, ohne sich verabschiedet oder bedankt zu haben, und dann gibt es keine Zeit mehr, um Abschied zu nehmen, keine Gelegenheit mehr, zu verzeihen oder eine letzte Frage zu stellen, keine Möglichkeit, sich zu versöhnen, den anderen zufriedenzustellen, etwas wiedergutzumachen. Doch obwohl sie schon am Eingang zum Krankenhaus stand, eilte sie nicht zu ihrer Mutter, nicht zu der kalten Fieberhaftigkeit der Notaufnahme, sondern in ein etwas weiter entferntes, von Rasenflächen umgebenes Gebäude, dort liegen Frauen mit schweren Körpern und strahlenden Gesichtern, dort mischt sich der Geruch nach Blut mit dem nach Milch, dort riecht es nach zarter Babyhaut, die zum ersten Mal der Luft der Welt ausgesetzt wird, der Geruch des Lebens, das sich plötzlich ändert, sich zusammendrängt und ehrfürchtig den neuen Ehrenbürgern Platz macht.
Sie läuft verlegen herum, wirft Blicke in Zimmer und tut, als suche sie eine Wöchnerin, aber ihre leeren Hände und ihr düsteres Gesicht verderben die Tarnung, sie wandert durch einen langen Flur, mit hin und her flitzenden Augen, sucht das Zimmer, in dem sie selbst vor sechzehn Jahren gelegen hat. Es ist das letzte Zimmer gewesen, erinnert sie sich, das den Bergen am nächsten, sie hat am Fenster gelegen, hat ihre Wintertochter gestillt, während Schneeflocken auf die Baumwipfel sanken, und als Gideon am Morgen kam, fand er sie beide vor dem beschlagenen Fenster, er lächelte aufgeregt und küsste sie, so dicht waren sie aneinandergeschmiegt, dass ein einziger Kuss für beide reichte, und dann hob er die Kamera, die er um den Hals hängen hatte, und fotografierte sie, umgeben vom dichten Nebel, ihr Gesicht strahlte ihm entgegen, neben dem Gesicht des schlafenden Babys. Dieses Foto hängt noch immer neben ihrem Bett, blendet sie jeden Tag mit dem Glanz des fallenden Schnees, dessen violetter Dunst sie umgab. Normalerweise ist sonst nichts zu sehen, nur in besonderen Momenten treten blasse Gestalten aus dem Dunst, geistergleich, wie zwei uralte Seelen, die das Glück hatten, nebeneinander noch einmal geboren zu werden.
Da ist das Zimmer, sie bleibt zögernd in der Tür stehen, da ist das Fenster, da sind die Berge, da ist das letzte Bett, in dem eine
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