Fuer den Rest des Lebens
der schmerzhaften Zange stecken geblieben, und auch wenn es nur der Nagel seines kleinen Fingers gewesen wäre, wäre der Schmerz unerträglich und die Befreiung unmöglich.
Der tiefe Schlaf seiner Mutter, ein ewiger Schlaf, wie es scheint, im Schatten der Tropfen, die rhythmisch aus dem Infusionsbehälter in ihre Adern fallen, das Rauschen des Überwachungsgeräts und das Klingeln der Telefone zwischen Husten und Gemurmel und die klagenden Seufzer schenken ihm langsam eine beruhigende Entspannung, als wäre diese ganze Hektik dazu bestimmt, ihn zu schützen, er lehnt sich zurück, bedeckt die Augen mit den Händen und schläft vermutlich ein, denn als er kurz darauf hochfährt und sich schüttelt, ist der Vorhang plötzlich ganz zurückgezogen und das Bett nebenan ist leer, der Mann mit der gelben Haut und dem bezaubernden Lächeln und seine schöne, edel aussehende Frau sind nicht mehr da, sie sind nur ganz kurz seine Nachbarn gewesen, wie sich jetzt herausstellt, und trotz seiner Tränen in ihrer Hosentasche hat er keine Ahnung, wer sie ist und wohin sie gegangen ist.
Ist er in diesem Moment gestorben, hat er gerade seine Seele dem Schöpfer zurückgegeben und man hat ihn gleich aus dem Bett entfernt, oder ist er in eine andere Station verlegt worden, vielleicht hat ja auch ihre Liebe die Krankheit besiegt und er ist überraschenderweise aus dem Bett aufgestanden und sie sind Arm in Arm wieder nach Hause gegangen und haben ihn, wegen des verfrühten, unerwarteten Abschieds, aufgeregt zurückgelassen. Schließlich ist er überzeugt gewesen, dass ihn noch viele Stunden in ihrer Anwesenheit erwarten, wie es in einer Notaufnahme üblich ist, Stunden, in denen es ihm gelingen würde, ihre Namen zu erfahren, ihre Berufe, die Geschichte ihrer Liebe, und nun wird er von einem so heftigen Gefühl des Versäumnisses befallen, dass er sich mit der Faust gegen die Stirn schlägt, wie er es als Kind in Momenten der Enttäuschung getan hat. Wieder hast du etwas versäumt, wieder hast du dich geirrt, du hast gedacht, du hättest noch Zeit, als würde jemand, der nur noch ein paar Tage hat, auf dich warten, so bist du, schläfst, während die Chancen vorbeifliegen, und ihm ist nicht ganz klar, welche Chancen er eigentlich beweint. Was hätten die beiden ihm beibringen können? Er steht auf und geht traurig zum Bett hinüber, vielleicht ist da noch ein Zettel von ihrer Hand, der ihm helfen könnte, aber das Blatt Papier neben dem Bett ist leer und nichts ist auf dem Laken zurückgeblieben. Er läuft zwischen den Kranken herum, sucht nach einer Schwester, bis er von weitem eine sieht und sie mit energischen Schritten einholt, als würde seine Mutter sie dringend benötigen. Er versucht zu lächeln, als sie sich ihm zuwendet, vielleicht erinnert sie sich doch vom Fernsehen an ihn, sagen Sie, der Kranke, der hier gelegen hat, ist er auf eine andere Station verlegt worden? Und sie antwortet, es tut mir leid, ich darf keine Auskunft geben, sind Sie ein Verwandter? Und er sagt, nein, aber ich habe ihm ein Buch geliehen und habe keine Ahnung, wo ich ihn finden kann, und sie sagt, sie sind nach Hause gegangen, Sie können sie zu Hause finden.
Er versucht sein Glück, das ist doch ein gutes Zeichen, nicht wahr?, und sie antwortet trocken, es gibt Menschen, die sterben lieber zu Hause, und andere ziehen ein Krankenhaus vor, mit diesen Worten entfernt sie sich schon, lässt ihn bestürzt zurück. Es gibt Menschen, die sterben lieber zu Hause - was für eine grausame Formulierung, als handle es sich um eine belanglose Tätigkeit wie Essen oder eine Einladung. Sind Sie verrückt geworden? Wie sprechen Sie eigentlich, liebt es überhaupt jemand, zu sterben? Er möchte sie anschreien, als wäre sie eine seiner Praktikantinnen, die sich in der Wortwahl vergriffen hat, aber sie ist natürlich schon verschwunden, lässt ihn neben dem leeren Bett zurück, und er setzt sich zögernd darauf, streicht mit der Hand über das Laken, so wie die Frau in der roten Satinbluse den knochigen Arm ihres Mannes gestreichelt hat, und weil es ihm scheint, als achte kein Mensch auf das, was er tut, legt er den Rücken auf die Matratze, dann die Oberschenkel, die Knie, die Unterschenkel und schließlich auch die Füße in den abgewetzten schwarzen Hausschuhen.
Er stellt sich vor, wie die beiden ins Auto steigen, langsam und vorsichtig legt sie ihn auf den Rücksitz, sie setzt sich ans Steuer und wirft ihm über den Rückspiegel ein ermunterndes Lächeln zu, sie
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