Fuer den Rest des Lebens
am Fenster, die Sonne beleuchtet ihr Gesicht und das eines Babys, das in ihrem Schoß liegt und schmatzende Geräusche von sich gibt. Normalerweise bitten sie sie um Erlaubnis, normalerweise hat sie nichts dagegen. Herzlichen Glückwunsch, Abigail, sagt sie missmutig, gerade erst geboren und muss schon von der Vertreibung aus Spanien erfahren? Groll lässt ihr Gesicht erglühen, sie fährt mit ihrem Vortrag fort, streng, als wolle sie das Baby erschrecken, die Krise, die mit der Vertreibung verbunden war, hatte zwei Pole, auf der einen Seite jene, die vertrieben wurden, und auf der anderen jene, die geblieben waren. Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts kam es schließlich zu einer tiefen Krise, die das jahrhundertealte jüdische Selbstverständnis in Spanien erschütterte und nach neuen Lösungen verlangte. Ihr Blick bleibt an dem Bild hängen, und zwischen ihren Rippen pocht der Schmerz, ein Körper mit zwei Köpfen, der eine klein und der andere groß, und sie nähren sich gegenseitig, ein Anblick, zugleich wunderbar und monströs. Der Schatten der dunklen Brustwarze, die immer wieder aus dem Mund des Babys gleitet, die offene Lust im Gesicht der Mutter, und das Nuckeln und Aufstoßen, das aus dem kleinen Magen kommt, der sich mit Milch füllt, ist immer wieder zu hören und weckt in ihr Wut auf den kleinen Schüler, der nicht brav zuhört, und auf seine Mutter, die sie mit ihrem Anblick und mit diesen Geräuschen einer völlig unerträglichen Erfahrung aussetzt, Bildern und Geräuschen, die wie der Liebesakt in der Öffentlichkeit nichts zu suchen haben.
Abigail, es tut mir leid, das Weinen stört uns alle, hört sie sich sagen, du solltest dir für die Unterrichtszeit eine andere Regelung suchen, und Abigail schüttelt sich, als wache sie auf, aber er weint doch gar nicht, protestiert sie, die Lippen gekränkt verzogen, doch Dina entgegnet stur, natürlich weint er, so kann man nicht unterrichten, solcher Lärm stört die Konzentration, ungeduldig verfolgt sie die Bewegungen der Schülerin, die ihre Sachen zusammenpackt und geht, während das Baby auf ihrem Arm laute Abschiedsschreie ausstößt, und Dina lächelt dem verbleibenden Publikum zu, es tut mir leid, normalerweise habe ich damit kein Problem, aber heute hat es wirklich gestört, nicht wahr?
Vergeblich wird sie auf Bestätigung hoffen, ihre Studentinnen haben sie längst durchschaut, eine knochige alternde Frau, die eine junge, fruchtbare Studentin aus dem Unterricht schickt. Als Folge der Vertreibung verstärkte sich das messianische Element im jüdischen Glauben, fährt sie fort, wurden nicht nur die Unsterblichkeit der Seele, sondern auch die weltliche Erlösung des Körpers, die Sammlung der Verstreuten und die Auferstehung der Toten zu bedeutenden Werten hier und jetzt, und es entstand eine enge Verbindung zwischen dem Gefühl, Opfer zu sein, und der Hoffnung auf Erlösung. Abigails leerer Stuhl steht sonnenüberflutet vor ihr, ist das ein vergessener Schnuller am Stuhlrand, sie könnte ihn am Ende des Unterrichts nehmen und ihn in die Tasche stecken, sie wird ihn konfiszieren, damit Abigail ihre Lektion lernt, aber was werden die Studentinnen denken, sie schauen sie sowieso schon misstrauisch an, und sie beendet den Unterricht ein bisschen vor der Zeit und verschwindet im Lehrerzimmer, hofft, Naomi zu treffen, da ist sie ja, sie beugt sich über eine aufgeschlagene Bibel und schreibt Notizen in ein Heft.
Was suchst du da noch? Sie lächelt ihr zu, du kennst doch alles schon auswendig, und Naomi hebt mit müdem Blick den Kopf, Ringe unter den Augen, ich wünschte, es wäre so, ich habe diese Geschichte schon seit Jahren nicht mehr im Unterricht behandelt, ich erinnere mich an nichts mehr. Was für eine Geschichte?, fragt Dina, füllt ihr Glas mit kaltem Wasser, und Naomi sagt, Hanna und Samuel, ich habe vergessen, wie erschütternd diese Geschichte ist, wie kann man bloß ein so kleines Kind weggeben, vor allem, wenn man so sehnsüchtig darauf gewartet hat? Dina interessiert sich nicht dafür, hör zu, Naomi, es gibt eine andere erschütternde Geschichte, ich habe gerade eine Studentin aus dem Unterricht geschickt, weil sie ihr Baby mitgebracht hat.
Das ist dein gutes Recht, auch mich stört es, wenn Babys weinen, sagt Naomi, und Dina sagt leise, damit die anderen Kollegen es nicht hören, es ist so, dass der Kleine nicht geweint hat, ich habe sie aus purem Neid hinausgeschickt, verstehst du? Ich konnte es nicht mit ansehen, und Naomi legt die
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