Fuer den Rest des Lebens
an die Liebe erinnert man sich, wann sie geboren wurde und wann sie aus der gemeinsamen Welt verschwand.
Die Lider senken sich über die Augen der jungen Mutter, gleich wird sie einschlafen, vermutlich schläft das Baby nachts nicht durch, jetzt ist es Zeit, schneller zu fahren, näher zur glühenden Wüste, doch da sagt Abigail leise, an der nächsten Kreuzung links, und Dina presst die Lippen zusammen und wird rot, als sie in einer eng bebauten Siedlung anhält, die Häuser sind noch nicht alt, wirken aber trotzdem schon verwohnt, sie steigt aus, holt, wie eine höfliche Taxifahrerin, den Kinderwagen aus dem Kofferraum und reicht ihr das Gepäck. Vielen Dank, wirklich, sagt Abigail, wo wohnt deine Mutter? Im letzten Moment versucht sie, ein Gespräch mit ihrer launischen Lehrerin anzufangen, und Dina sagt, nicht weit von hier, sie verschwindet schnell und lässt Abigail auf dem Gehsteig stehen und dem Auto dankbar hinterherschauen, ohne die leiseste Ahnung, welcher Gefahr sie entronnen ist.
Jeder hat das Kind, das er verdient, sagt Dina und lächelt bitter in das zerstörte Gesicht ihrer Mutter, unter den Schatten der weißen Augenbrauen blicken ihr rote Augen entgegen, wie offene Wunden, soll ich dich in den Armen wiegen, teures Mütterchen, soll ich dich am Bauch kitzeln, dir einen Schnuller in den Mund schieben, soll ich dich zudecken und auf Zehenspitzen aus dem Zimmer gehen, nur um leise zurückzukommen und dich zu betrachten, während du schläfst? Wie kann es sein, dass nur du mir geblieben bist, ausgerechnet du, die nie mir gehört hat, und außerdem bist du sowieso nur noch der Rest eines Menschen. Ein verzerrtes Lächeln huscht über die zusammengepressten Lippen, Dina kommt es vor, als sei ihre Mutter ganz in einer Wahnvorstellung versunken und versuche nicht einmal, ihre Schadenfreude zu verbergen. Die ganzen Jahre über war ihre grenzenlose Liebe zu Nizan ihrer Mutter ein Dorn im Auge gewesen, als wäre diese Liebe gegen sie gerichtet, als wolle sie ihr beweisen: Siehst du, so erzieht man ein Mädchen, so liebt man ein Mädchen, bestimmt würdest du dich jetzt freuen, wenn du wüsstest, dass deine scheinheilige Tochter sich geirrt hat, auch wenn sie nicht weiß, worin. Unendlich viele Konkurrenzkämpfe haben sich in all den Jahren im Verborgenen abgespielt, mit ihrer Schwiegertochter hat Chemda um Avners Liebe konkurriert, und mit Nizan um ihre Liebe, ihre Enkel hat sie ermutigt, um die Liebe ihrer Großmutter zu konkurrieren, so wie ihre Tochter mit ihrem Bruder konkurriert hat, Konkurrenzkämpfe, die schon von vornherein verloren sind, der Verlierer verliert und, was Wunder, auch der Sieger verliert, und jetzt liegt sie hier vor ihr, in dem dämmrigen Zimmer, Röchele, die Pflegerin, hat ihren Besuch genutzt, um Einkäufe zu erledigen, sie hat die Mutter in ihre Hände gegeben, als wären dies die sichersten Hände der Welt.
Wie naiv Röchele ist, wie überzeugt, man könne sich auf mich verlassen, ich würde die Hilflosigkeit der alten Frau, für die sie sorgt, nicht ausnutzen, ich würde ihr nichts Böses antun, wie naiv, schließlich gibt es keinen Menschen auf der Welt, der so wütend auf sie ist wie ich. Ein Dieb, der in diese armselige Wohnung eindringt, auf der Suche nach Schmuck und Geld für Drogen, würde mehr Mitleid mit ihr haben als ich, doch zugleich hat sie recht, letztlich kann man sich auf mich verlassen, es gibt nichts mehr, was ich ihr wegnehmen kann. Ein Dieb könnte in ihrer Handtasche noch ein paar Geldscheine finden, aber ich werde von ihr nicht mehr das bekommen, was ich benötige, noch nicht einmal das kleinste Blinzeln, keine einzelne Münze.
Wieder erscheint ein Lächeln auf dem Gesicht ihrer Mutter, ein etwas flehendes Lächeln, das ihren Zorn weckt, sie zieht den Rollladen hoch, grelles Licht durchflutet das Zimmer, sie schüttelt die alte Frau, Mutter, wach auf, drängt sie, du hast später noch genug Zeit zum Schlafen, ich muss dich etwas fragen, denn plötzlich kommt es ihr vor, als sei dies die letzte Gelegenheit, die klaren Momente werden immer seltener, vielleicht hat sie jetzt Glück, und während sie dieses schlafende Gesicht betrachtet, erinnert sie sich, wie sie einmal im Kibbuz zur festgelegten Besuchszeit ins Zimmer ihrer Eltern kam und ihre Mutter im Bett vorfand, und es war so ungewöhnlich, sie schlafend zu sehen, dass sie sie für tot hielt und sie weinend schüttelte, Mama, du lebst, du lebst, rief sie ihr ins Ohr, und Chemda riss erschrocken die
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