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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Mao!‹ herüberkäme, würde es vielleicht klingen wie ein Attentat.«
     
    Es dauerte nicht lange, und ein mächtiger Demonstrationszug wälzte sich über die Straße am Berg entlang in die Stadt. Die Stadt brodelte, sie wurde durch die Lichter aus den Hochhausschluchten zu einem Großteil erhellt, überall stürzten die Menschen die Treppen hinunter, manche zogen sich im Laufen noch ihre Schuhe oder Hosen an, andere trugen ihr Hemd einfach in der Hand und reihten sich mit nacktem Oberkörper in den Zug ein. Vom Kunstmuseum, mit seinen paar hundert Metern über dem Meeresspiegel der beherrschenden Anhöhe, ging es, aus Vogelperspektive gesehen, schnurgerade nach unten, die Massen strömten lärmend die handbreite Bergstraße herunter.
    Auch ich polterte die Treppen herunter und auf die Straße und wurde von den Wirbeln und Rückstaus der gewaltigen Woge mitgerissen ins Zentrum der Stadt – zum Nanmenshan-Platz, der so groß ist wie vier Basketballplätze. Dort staute sich der Strom und bildete große Wirbel, aus deren Zentrum dauernd irgendwelche selbsternannten Redner und Wichtigtuer zu hören waren.
    Ich kämpfte, konnte aber in keinen dieser Wirbel hineinkommen und wurde seitlich an die Steinstufen abgedrängt zu einem Club von Arbeitern, der dort imposant auf den Hacken saß, den öligen Schweiß verrieb und sich das Ganze von oben betrachtete.
    Als Letzter kam der Demonstrationszug der Studenten, ihnen voran aus Bettlaken zusammengenähte Transparente mit Sprüchen wie »Nieder mit den Profiteuren in der Beamtenschaft, Bestrafung der Korruption« und »Unschuldige Patrioten unterstützen Beijing«. Die Schaulustigen öffneten eine Gasse, auf dem Platz lösten sich die vereinzelten Wirbel auf, doch rasch bildete sich ein neuer, noch viel größerer und viel stärkerer Wirbel.
    Überall wurden eiserne Fäuste hochgereckt, ein, zwei Stunden lang ebbte das donnernde Murmeln der Masse nicht ab, dann bekam der Zug wieder sein altes Gesicht, und es ging im Norden der Bergstraße den Yijia-Damm hinauf, zum größten Versammlungsplatz der Stadt. Aus der langen Schlange wurde allmählich ein wütender Riesenpython, und dieser Python wurde durch den Zustrom von mehr und mehr Schaulustigen immer breiter und bewegte sich immer langsamer. Ihr Kopf, ihr Schwanz und ihre Mitte schwollen mehrfach kräftig an, dann streckte sich das Ganze wieder, sie hatte die neuen Revolutionäre geschluckt und verdaut.
    Große Kerle hatten einander die Arme um die Schultern gelegt wie bei einem Fest, sie plauderten und lachten, und wenn sie mit erhobenen Händen ihre Parolen riefen, hatten ihre Gesichter einen jugendlichen Glanz.
    Wer müde war, trat aus der Kolonne heraus, ruhte sich an der Seite ein wenig aus, und wer vom Herumstehen genug hatte, hockte sich einfach in Gruppen zu dreien oder fünfen auf die Hacken. Einer rief: »Warum machen die Läden denn nicht auf, und wir veranstalten einen Nachtmarkt?«
    Ich konnte die Augen nicht mehr offen halten, ich musste nach Hause. Die Mondsichel war noch röter geworden, ich legte mich in diese Wunde, die Sterne als grünköpfige Mücken verschlangen den endlosen nächtlichen Dämmerschein. Ich dachte an den alten Mann, der auf der Straße zu mir gesagt hatte, das sei die turbulenteste Nacht, die Fuling seit Menschengedenken erlebt habe.
    Als ich am nächsten Tag wach wurde, ging es bereits auf Mittag. Ich hörte A Xia erzählen, die Studenten hätten bereits die Bezirksverwaltung besetzt. Das jagte mir doch einen Schrecken ein: »Also tatsächlich ein Umsturz?«
    Ich hatte mir noch nicht das Gesicht gewaschen, da war ich schon auf der Straße, doch die Stadt lag da, ruhig und friedlich wie immer. Die Passanten verbargen sich unter den grau-dunklen Arkaden, und ein paar träge Hunde stolzierten auf der Mitte der Straße herum. Auch wenn ein Auto die Hangstraße heranknatterte, bewegten sie sich nur aufreizend langsam zur Seite. Flugblätter, die von der Revolution übrig waren, zerrissene Transparente, Papierfetzen wirbelten im Staub herum.
    Das fünf Meter hohe Eisengitter um die Bezirksverwaltung war verschlossen, die kleine Eingangspforte stand einen Spalt weit offen, vom Chef der Torwache wurde eine Gruppe von Studenten mit roten Bändern festgehalten, wer einen Studentenausweis hatte, durfte hinein. An der Umfassungsmauer herrschte das übliche Treiben des Gemüsemarkts, die Bauern hatten ihre Gemüsestangen von den Schultern und ihre Bündel vom Rücken genommen, klebten am Gitter und

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