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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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eingeladen, die Schönheiten des Abends waren noch gar nicht erschienen, als ein Gesicht auf mich zukam, das schwer unter Druck stand. Unmerklich wie ein Hai umkreiste ich sie, zweimal, dann wurde ich hinausgedrängt und landete in einem fremden Bett. Als am nächsten Morgen die Sonne durch die Gardinen schien, fuhr ich von dem donnernden Schnarchen neben mir hoch, die Nixe vom Vorabend, die neben mir lag, entpuppte sich als Bärin, die gewaltigen Arme unter drei Doppelkinne gekreuzt.
    Im März 1989 machten an der Universität Wuhan meine Sexgeschichten die Runde, jemand hat mir von hinten einen Messerstich verpasst. Die Wunden waren noch nicht geheilt, da zog ich mit Li Yawei weiter nach Norden. In Beijing angekommen, erfuhren wir, dass Haizi sich unter einen Zug geworfen hatte. [6] Der robuste Kerl hatte mir zwar eine ganze Reihe von Gedichten und Briefen geschrieben, aber dass er sich umgebracht hat, hat mich nicht sonderlich gekratzt, jeder von uns hat Phasen, in denen das Leben sinnlos ist; wenn sich der Kopf da nicht herauswindet, ist man verloren.
    Der Tod von Hu Yaobang [7] im April war dann allerdings etwas anderes, Tausende Kränze wurden auf den Tiananmen gebracht, nach und nach erfasste es das ganze Volk. Ich habe mit Li Yawei den Funken gesehen und den Steppenbrand, den er auslöste. Revolution, Revolution lag in der Luft und brannte unter den Nägeln.
    Wir zogen durch die Straßen wie zwei ausgehungerte Wölfe und fluchten auf die Obskuren Dichter [8] : Wir hatten an der Verleihung des Preises für zeitgenössische Dichtung teilgenommen, ohne Stimmrecht natürlich, und weil wir so abgefertigt worden waren, machten wir den Vorsitzenden Bei Dao [9] zum Prügelknaben, er war für uns Xu Yunfeng, der Märtyrer aus dem Revolutionsroman »Roter Fels« [10] .
    Da wir mit unseren Gedichten und Lesungen die Hauptstadt nicht erobern konnten, haben wir wohl oder übel das Zentrum des Orkans verlassen und sind über einen langen Bogen nach Süden und nach vielen Zwischenstationen in Chongqing gelandet, bei Zhou Zhongling, wo wir eine Weile wild herumblafften, bevor wir schließlich unzufrieden mit der ganzen Welt nach Fuling zurückkehrten.
    Ich zog die Tür hinter mir zu und schrieb einen ellenlangen Artikel »Der Sturz der Götter«, es ging um Kunst – was im Land vor sich ging, bekam ich nicht mit.
    Allerdings bekam ich in diesen Tagen Briefe über Briefe, Miu Yilong schrieb aus Chengdu, Liu Xia und Wu Bin aus Beijing, Zhu Yanling aus Kanton, Jiang Zhong aus Wuhan, Zhou Zhongling aus Chongqing, voller Emphase beschrieben sie die großartigen patriotischen Szenen, die sich überall abspielten, selbst in Hongkong gab es ein paar Helden, ein paar hundert Schlagersternchen veranstalteten ein Marathonsingen und sammelten für die Studenten, die auf dem Tiananmen im Hungerstreik waren. Alle möglichen offenen Briefe, Flugblätter, Aufrufe zu Unterschriftensammlungen, ein Strom von Manifesten, ich rümpfte nur die Nase, mich brachte das nicht aus der Ruhe, und ich fand das gut so.
    Bis dann irgendwann um Mitternacht von weit her ein Knallen zu hören war, dreimal, dung-dung-dung, und dann die »Internationale« heraufwehte, ganz weich und mild, wie von Kindern gesungen. Ich öffnete das Fenster, die Berge standen in der Ferne wie riesige Altäre, darauf hingebreitet die ausladenden Kurven einer dicken Frau, unordentlich lag ihr Kleid in der Nacht, Sterne und Lichter schienen von ihm herabzufallen wie Pailletten. Der Mond war ein Schnitt, eine leichte Brise brachte den süßlich-faden Geruch von Blut. Das Singen wurde lauter, ich hörte genauer hin, man konnte es orten, es kam von der anderen Seite des Flusses, vom Junior-College, der höchsten Schule im Umkreis.
    Aber ich wusste nicht, warum sie die »Internationale« so schleppend sangen, so sanft, wie ein Requiem, voller Traurigkeit und wie ein Gebet, Tausende toter Kinder wurden zwischen den Händen von Zeit und Raum zu Buletten verarbeitet, sich windende Lichtbündel, als würden Glühwürmchen an zehn Fingern Reihen bilden und unter den Menschen hin und her gehen. Ich murmelte unweigerlich: »Seltsam, dass man dieses große proletarische Lied so traurig singen kann.«
    A Xia lachte: »Vielleicht liegt das an deiner Stimmung? Wenn nicht, dann weil es so weit weg ist.«
    Ich nickte, das leuchtete ein: »Es ist Nacht, und es ist still, da wird aus einem Furz ein Geheimnis; wenn jetzt aus den alten Wäldern drüben in den Bergen ein ›Lang lebe der Vorsitzende

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