Für ein Lied und hundert Lieder
stürzten einem plötzlich ungebetene Gäste in die Wohnung, man musste aus den Federn und so tun, als hätte man für den ganzen Zirkus auch noch Verständnis.
An so einem Abend kam der Museumsdirektor herein, sagte kein Wort, half mir, den Fernseher anzumachen, und ließ sich ohne Umschweife mitten im Raum nieder. Auf dem Bildschirm erschien eine Wiederholung, Bilder des Gesprächs zwischen Li Peng, Chen Xitong und anderen hochrangigen Vertretern des Staates und der Studenten im Hungerstreik, der Herr Direktor starrte eine Viertelstunde ganz gebannt in den Kasten, dann machte er auf einmal seiner Wut auf den Staatsratspräsidenten in diesem Kasten Luft: »Der redet doch um den heißen Brei herum, der Herr Präsident, der Schönredner, wirklich, verdammt, was für ein Idiot!«
A Xia reichte ihm besorgt ein feuchtes Handtuch, aber der schweißüberströmte Kader nahm es nicht an: »Unterstes Niveau, aber ein Land regieren! Der könnte nicht mal ein Museum leiten!«
»Was hat es mit Ihnen zu tun, dass er ein Idiot ist?«
»Wenn ich das sehe, kriege ich Zustände! Die fragen ihn nach dem Problem der Vorteilsnahme durch Kinder hoher Kader, und der antwortet, seine Kinder hätten damit nichts zu tun, das heißt doch, alle außer seiner Familie machen das!«
»Er mag ja dumm sein, aber er hört zu«, ich gab dem Affen Zucker, »in den letzten Jahren war das Regieren bei uns doch wie das Füttern von Schweinen, solange einer etwas zu fressen in der Hand hat, machen die Einfallspinsel alles.« [11]
»Halt dich zurück, Bartgesicht!«, gebot A Xia mir Einhalt.
Die Tage gingen dahin, es hing mir zum Hals heraus, ich las einfach keine Berichte mehr, schaute nicht fern, ein Parasit durch und durch, ich lag die ganze Zeit auf der faulen Haut, nur A Xia besuchte mich hin und wieder in meiner Gruft.
An wie vielen Abenden habe ich das Fenster aufgemacht, um zu lüften, und über den Lärm der Welt hinweg hinübergelauscht auf das Gespräch zwischen Bergen und Wolken – ich hatte das Gefühl, auch die Erde war ein Grab, nur größer. Ich starrte vor mich hin, leer und namenlos sentimental, mein Körper war bis zum Rand voll mit dem Lärm des Massakers. Ich hatte das alles schon immer verachtet, den Staat, die Massen, die Parteien, die Bewegungen, aber ich hatte trotzdem Angst, von all dem verschlungen oder vergessen zu werden.
Der englische Dichter Dylan Thomas wurde im Alter von 20 Jahren Augenzeuge einer Demonstration gegen die Regierung, der unbedarfte Junge war eine Weile Feuer und Flamme und schrie den vorbeistürzenden Massen zu: »Wir sind alle tot!« Am Ende hat er faule Eier, Steine und Knüppel abbekommen, natürlich. Wenn ich, der ich nicht einmal in der Lage bin, zuzuschlagen und mich dann aus dem Staub zu machen, etwas Ähnliches aufführen würde, ich würde in der Heilanstalt landen.
Das Schlachtfeld war leer, und zwei verschiedene Liao Yiwus hielten Selbstgespräche. Wenn A Xia heimkam, gaben die beiden einander die Hand und legten ihren Streit bei, kaum war sie weg, gingen sie wieder aufeinander los. Einmal haben wir im Wohnzimmer herumgefuchtelt und aus Versehen den auf dem Boden stehenden Fernseher umgetreten. Dieses extreme Gefühl der Zerrissenheit hat ein Gedicht angestoßen:
Exil, Exil, endloses Exil … das Haus in den Wolken … hast du dich wirklich auf die Schienen gelegt für ein totes Paradies?
Als er dein Genick brach, raste der Zug Richtung Mond, nicht mehr schwarz, er war weiß, nicht mehr schwer, er war leicht, ein heiseres Rufen zog er nach … hat dich der erfundene Zug wirklich noch einmal zerrissen?
Wie ein vergessenes Lied gehst du uns im Kopf herum, wirklich, jenseits von Literatur, für immer ungesungen. Die Berge stehen und schauen, hundert Millionen Jahre, schweigend, wie die Wolken entstehn und vergehn, du warst zwischen ihnen, ein Gespräch, und in diesem Gespräch, das die Zeit nach Belieben lang macht, ist doch der Mensch ein Sprechen, ein Innehalten.
In die Wüste gegangen, in die Wüste geschmolzen, mit dem Durst des Leibes das Dürsten der Seele gestillt! Du nährtest mit gebrochenem Arm die Zehntausend Dinge, eine kühle Quelle entspringt in diesem Bruch, steigt – steigt – steigt! Oben ist und für immer das Wasser, das stillt
Uns mangelt Wasser! Wir brauchen Fahnen, Waffen, Regierungen, Fernsehstationen und womit wir sonst unseren Durst stillen! Wir brauchen Umzüge, Demonstrationen, Druck und Gegendruck! Brauchen das Blut der Alten, der Kinder als
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