Für ein Lied und hundert Lieder

der Hand reißen. Ich gab nicht nach, so ging es zwei-, dreimal hin und her, bis wir uns den rohen und gekochten Reis halbe-halbe teilten.
    Dann war Rauchzeit, kaum war der Raum mit dem giftigen Qualm vollgepafft, musste die Anwesenheitsliste verlesen werden. Danach wurde die Eisentür geschlossen und ferngesehen. Der Vorsitzende Chen und ich fingen an zu arbeiten und führten dabei Geheimgespräche.
    »Das ist jetzt schon das dritte Mal«, beklagte er sich, »wie soll ich ihnen das verzeihen?«
    »Die Gefühle der lebenden Toten schwanken extrem, da blickt keiner ganz durch«, murmelte ich, »die Kerle, die das Höllentor zumachen, werden sich niemandem gegenüber dankbar zeigen.«
    »Er hat immer noch nicht verstanden, wo er hier ist«, sagte der Vorsitzende Chen, »seine Machtgeilheit ist ja gigantisch.«
    »Überlass ihm den Vorsitz in der Zelle«, schlug ich vor, »und sag es morgen unserem Regierung Tong.«
    »Das geht nicht, es gibt keinen Präzedenzfall, dass im Knast einmal ein Todeskandidat Zellenchef gewesen wäre.«
    »Dass du abtrittst, zählt, wer es dann macht, darum soll er sich kümmern. Höchstens noch zwei Monate, dann musst du in das Licht der Öffentlichkeit.«
    Überraschenderweise kam sein freiwilliger Machtverzicht zu spät, eine halbe Stunde nach unserem Gespräch machte der Kleine Tote auf einmal einen Aufstand und verbiss sich in eine Allzweckdecke, die ihm gehörte, die aber der Vorsitzende Chen in Beschlag genommen hatte. Diese offensichtliche und unverfrorene Verunglimpfung machte uns alle fassungslos und dann wütend, der Vorsitzende Chen brüllte: »Die Decken sind alle gleich, wie kommst du darauf, dass meine dir gehört?!«
    Der Tote Chen schürte das Feuer: »So ein kleiner Gauner und schon so verdorben, willst wohl noch ein großer Beamter werden?«
    Der Blasse Magister meinte: »Ihr Konterrevolutionäre hier in der Zelle führt uns noch alle hinters Licht, ihr täuscht die Regierung, wir hätten schon längst etwas sagen sollen!«
    Ich fror am ganzen Körper, spürte intuitiv die Falle und streckte die Hand aus, um den Vorsitzenden Chen auf seinen Sitz hinunterzudrücken und so die Situation unter Kontrolle zu bringen. Aber der war vor Wut schon ganz neben der Rolle, stieß mich weg und war mit einem Satz vom Kang: »Die Gerechtigkeit bin ich!«
    Mit dem Rücken gegen das Eisengitter schwang er beide Fäuste und schrie: »Ich werde keine Meldung machen, Meldung machen ist nicht meine Art, die Wachsoldaten sind gerade vorbei, ich werde das ausnutzen, und dann werden drei Nichtsnutze auf einmal abfliegen!«
    Die Eisenfesseln rasselten dramatisch, die Zelle war wie eine Schmiede. Der Kleine Tote machte den Anfang, ich hatte mir gerade den Toten Chen geschnappt, als eine Handschelle meinen Unterkiefer traf, ein übler Schmerz.
    Ohne mich als Schutzwand hatte der Vorsitzende Chen eine Weile mit den Nichtsnutzen zu tun. Das war ein kritischer Augenblick, der Gute hatte bisher noch keinen Mord begangen, er packte nur eine Fessel und hielt sich mit einer außergewöhnlichen Kraft die Angreifer auf Armlänge vom Leib.
    Der Kleine Tote nutzte die Gelegenheit und bückte sich zu einem Überraschungsangriff, doch er bekam einen Tritt vor den Latz, fiel mit dem Gesicht nach oben um und wälzte sich auf dem Boden.
    Ausgerechnet heute war der Wachhabende ein politischer Gefängnis-Instrukteur, der die Aufständischen vom 4. Juni hasste wie die Pest. Unter den tränenreichen Klagen von drei Todeskandidaten und zwei Schwerverbrechern konnte der Vorsitzende Chen vorbringen, was er wollte, er wurde als Zellentyrann eingestuft, eine halbe Nacht lang mit Elektroknüppeln, Tauen, Tritten und Schlägen gequält und wurde schließlich mit blutunterlaufener Nase und geschwollenem Gesicht in Ketten in eine andere Zelle verlegt.
    Getragen von dem starken Ostwind der Diktatur des Proletariats, wurde eine große Vollversammlung des Gefängnisses angekündigt. Politische Instrukteure, Untersuchungsbeamte für Wohnungen und der stellvertretende Gefängnisdirektor Jia hielten nacheinander eine Rede, sie dichteten dem Vorsitzenden Chen alle möglichen Übeltaten an, und alles, was sie als Delikt vorbrachten, war eine von ihnen willkürlich entstellte gute Tat gewesen – so wurde zum Beispiel aus der Tatsache, dass er freiwillig Geld gegeben hatte, um für die Toten Fleisch zu kaufen, ein Darlehen mit Wucherzinsen und so weiter und so fort.
    Selbstverständlich wurde ich befördert zu seinem »schwarzen