Für ein Lied und hundert Lieder

Mentor«, einem Feind, noch hinterhältiger als der Zellentyrann selbst.
    »Die Mehrheit der Straffälligen möchte bereuen, ein neues Leben beginnen und zur Regierung aufschließen, auch im Gefängnis findet ihr für eure Konterrevolution keinen Markt«, verkündete ein politischer Instrukteur ernst.
    Knapp zwei Wochen später wurde ich ebenfalls in eine andere Zelle verlegt – das musste früher oder später so kommen. Trotzdem, die Prügelei, die ich diesmal veranstaltete, war noch schöner als die vom Vorsitzenden Chen. Die Sinne eines wilden Tieres, das in die Enge getrieben wird, sind besonders geschärft, wer bei dem geringsten Geräusch als Erster zupackt, hat gewonnen. Die Papierfetzen flogen nur so durch die Luft, ich knallte einen Leimtopf in Richtung meiner Feinde, dann schlug ich eine weitere Schale auf dem konfusen Hirn von so einem Hund in Stücke.

Zelle 6
    Ich wurde in Ketten in Zelle 6 verlegt. Um meine Würde zu wahren, blieb mir nichts anderes übrig, als zu hungern. Ich kann mich erinnern, dass an diesem Abend die letzte Folge der »Brennenden Hoffnung« lief, die Meute hockte auf dem Kang, reckte die Hälse, einfältig wie eine Scherbe Steingut.
    Die Handlung lief auf den Schlusshöhepunkt hinaus, wo alle zusammenkommen. Ein Kerl namens Wang Er konnte nicht mehr an sich halten, sprang auf, riss sich die Hose herunter und warf mit seinem hoch aufgerichteten Glied der Schönen auf dem Bildschirm einen Handkuss zu: »Ich liebe dich, einsame Frau!«
    Auch ein anderer, den sie Großes Baby nannten, fing vor Schmerz an zu schreien, die Meute fing schallend an zu lachen, was wiederum den Wachsoldaten auf den Plan rief, der über unseren Köpfen durchlud. Wang Er aber schlug sich gegen Rippen und Brust und rief: »Onkel Befreiungssoldat, schlag hierhin.«
    »Schon wieder du!«, brüllte der Wachsoldat zurück.
    »Das bin nicht ich, das ist Hui Fang, die im Fernsehen. Onkel, weißt du denn nicht, dass meine Ex auch Hui Fang geheißen hat?«
    »Dein früherer Name war Wang Husheng«, lachte der Wachsoldat überraschenderweise, »verdammt, das war die gleiche Sorte.«
    Ich saß am Rand des Kang, hielt den Kopf in einem Winkel von 90 Grad nach oben, ich konnte nichts deutlich erkennen, aber ich machte es wie alle und lachte blöd. Niemand beachtete mich, ein Gefühl der Leere und der Lebensmüdigkeit breitete sich in mir aus und kroch nach draußen – wenn ich diese Nacht überstand, würde der morgige Tag noch schwerer zu überstehen sein. Würde? Bei einem Menschen, dem buchstäblich die Hände gebunden waren? Essen, Trinken, Scheißen und Pissen, für alles musste man sich erniedrigen und um Hilfe bitten.
     
    Im Gang unterhalb des Kang kauerten andere, die Klamotten zerlumpt, wie ein Nest Ratten, und mobilisierten alle Kräfte für ihre Handarbeit. Undeutlich nahm ich die verschiedenen seltsamen Gerüche der Menschen und der Zelle wahr.
    Nach einer Weile kam das Klingelzeichen für die Pause, mein Bett war gewohnheitsgemäß in der Nähe der Toilette. Zum Abendessen gab es gebratene Zwiebeln, ein Duftgemenge aus Zwiebeln und Kot erhob sich über den Kang und trieb mir die Tränen in die Augen. Ich sprang hoch und schnappte durch die Gitterstäbe nach Luft, während Wang Er hinter mir schrie: »In der Zelle sind keine Todeskandidaten, da müssen wir nicht Wache schieben.«
    Wohl oder übel drehte ich mich um und zog mit Zähnen und Füßen die Decke hoch und ruhte wieder schief gegen die Wand gelehnt. Hinter mir drangen unentwegt die Geräusche des Pinkelns und Kackens an mein Ohr und stachelten meinen Wunsch an, mich selbst zu entleeren. Viele Füße hoben und senkten sich vor mir, allmählich verwandelte ich mich in einen großen Nachttopf, der die Meute reihum zum Pinkeln aufrief und doch nicht alles in seinem Bauch fassen konnte und andauernd den Wunsch hatte, in einen dieser unerträglichen Penisse zu beißen.
    »Ich muss Wasser lassen!«, schrie ich, »wenn mein Bauch leer ist, könnt ihr weiterpinkeln!«
    Niemand hörte mich, schnell war meine Blase zum Bersten gefüllt. Ein anderer Vorsitzender stieg durch das hintere Fenster herein, sein großer, fetter Schatten füllte die ganze Zelle, schon von weitem nahm er seinen Penis heraus und streckte gleichzeitig die Hand nach mir aus, was mich so erschreckte, dass ich mich immer weiter zurückzog. Aber ich konnte mich nicht bewegen, ich schwankender Nachttopf schrie: »Nein! Nein!«
    Ich würde auf keinen Fall in der Lage sein, den Inhalt dieser