Für ein Lied und hundert Lieder
Augenblick war ich ganz durcheinander, dann richtete ich ihn von hinten auf, was mir die letzte Kraft kostete, zerrte ihn sogar über ein paar Bettstellen weg und platzierte ihn auf der Brust seines Feindes … damals war ich gerade sechzehn, und selbst wenn es einen das Leben kostete, hinrichten konnten sie mich nicht.«
Ein heulender Luftzug pfiff durch die Zelle, der Rest der Suppe war im Nu kalt, die Hälse von uns allen wurden immer kürzer, je mehr wir aßen, der Todeskandidat Ma Yun schluchzte: »Das ist mein letztes Neujahrsessen.«
Der Große Drache, unser Neuzugang, sagte: »Du gehst zuerst, ich komme als Nächster, es ist für alle gleich.«
Der alte Bai widersprach: »Wer früh stirbt, wird früh wiedergeboren, bring anderen kein Unglück! Wie wäre es, wenn wir Fingerraten spielen?«
Wang Er reagierte: »Gut, das Essen ist kalt, der Bauch ist heiß!« Damit reckte er den Hals in die Länge und öffnete die Faust für die erste Fingerfigur, als ein Wirbelwind vom ersten Stock heulend auf uns herabstürzte, Wang Er erschrak und nieste: »Vater hat einen Zug bekommen!«, schrie er.
Der alte Bai nieste ebenfalls und sagte niedergeschlagen: »Das Öl in der Schale hier ist geronnen, sollen wir nicht doch aufräumen?«
»Wühl dich in deine Decke und schau fern!« antwortete ich.
Das geschäftige Durcheinander hatte ein Ende, Wang Er schenkte mir eine Papierbrille, die er aus einer Zahnpastaschachtel gemacht hatte, als Neujahrsgeschenk, durch die beiden Nadelöhre auf den runden Papierschalen konnte ich zum ersten Mal ganz klar das Fernsehbild ausmachen.
»Dieses Spielzeug hier ist unbezahlbar«, dachte ich mir im Stillen, »wie soll ich mich revanchieren?«
Die Gefangenen reckten die nackten Hälse aus der Windspalte des Gitters, um zu rauchen und dabei nicht in das Blickfeld des Wachsoldaten zu geraten, nur Wang Er rauchte in seinem Nest, ich hatte eine plötzliche Eingebung und sagte: »Ich kaufe dir zu Neujahr eine Packung 555.«
Wang Er seufzte: »555 mag ich, aber es ist Gesetz, dass an Neujahr kein Handel getrieben wird.«
»Und wenn man dieses Gesetz einmal bricht?«
»Wenn man das Gesetz bricht, wird man vom Pech verfolgt.«
Gegen nachts um zwölf gab es ein großes Feuerwerk, über zwanzig Minuten lang herrschte ein markerschütterder Lärm, und vereinzelte Explosionen ertönten noch zwei Stunden weiter. Außer- und innerhalb der hohen Mauer war alles von Schießpulverrauch eingehüllt, eine Weile breitete sich in der Zelle Winternebel aus und ließ die Silhouetten verschwimmen. Aus der Ferne war ein seltenes Mitternachtsläuten zu hören, ich nahm die Papierbrille ab und wollte gerade vom Fuß der Mauer in meine Decke rutschen, als ich sah, wie Wang Er splitterfasernackt hochschoß, sich auf sein Bett kniete, mit dem Kopf gegen die Wand schlug und genau Richtung Norden drei Kotaus machte.
»Mutter, dein Sohn wünscht dir ein gutes neues Jahr!«, rief er mit belegter Stimme. Eine Träne schimmerte ihm im Auge, schon war er komplett in seiner Decke verschwunden.
Einer nach dem anderen machte es Wang Er nach, streckte das Hinterteil in die Luft, heulte und jammerte einen Augenblick, ziemlich imposant das Ganze, was den Wachsoldaten auf den Plan rief, der uns von über unseren Köpfen her verwarnte: »Haltet euch ein bisschen ruhiger!«
Der Lärm ebbte allmählich ab. Hin und wieder ging draußen etwas hoch, die Nacht versank in einen tiefen Abgrund. Zu dieser Stunde leuchteten die von den Kerlen angemachten Neonlampen besonders traurig. Keiner war wirklich müde, Augen schauten aus den Decken heraus, jeder hing seinen eigenen Gedanken und Sorgen nach. Der Mond ging im Westen unter, was nur der an die Innenwand lehnende Wang Er sehen konnte; ich konnte spüren, wie der Wachsoldat im Dämmerlicht im Mondschatten durch den Sternenhimmel tappte.
»Konterrevolution!«, rief der alte Bai, »schläfst wohl noch nicht?«
»Ich kann nicht schlafen.«
»Wenn du draußen wärst, was würdest du dann machen?«
»Auch fernsehen, mit der Familie herumalbern. Und du?«
»Mahjongg.«
»Jedes Jahr?«
»Jedes Jahr, deshalb macht es nicht viel Unterschied, ob ich drin bin oder draußen.«
»Frag mal den Wachsoldaten, ob es einen Unterschied macht!«
»He, Volksbefreiungssoldat«, prompt reckte der alte Bai den Hals und suchte ein Gespräch, »ein gutes neues Jahr auch!«
»Na, du Scheiß Großkopf!«, sagte der Wachsoldat böse, »wenn du nicht artig bist, knall ich dich ab.«
»Dein
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