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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Welt irgendein Mensch zu hundert Prozent vertiert, willst du mir das zeigen?«
    »Das will ich.«
    Das war ein Morgen, der einen ersticken ließ, düstere Wolken wurden von einer unsichtbaren Hand wie falsche Gesichter vom Himmel heruntergerissen und umhüllten die Welt mit ihrer Erbsünde. Wir konnten uns nicht aus unserem Tierkäfig befreien, denn die Seele selbst ist ein Tierkäfig.
    Wang Er rauchte und betrachtete konzentriert das Betongitter oben am Innenhof. Wir saßen Schulter an Schulter, die anderen waren drinnen und gingen ihrer Arbeit nach.
    »Du mit deiner Sehschwäche«, sagte er, »hast du die Betongitter da oben gezählt? Sie zerschneiden das Sonnenlicht in Vierecke, vormittags fallen sie an die rechte Mauer, nachmittags an die linke, schwer zu sagen, ob ich nach meinem Tod zurückkommen werde, um hier zu sitzen und die Vierecke zu zählen.«
    »Dieses Gefühl hatten zum Tode Verurteilte auch früher schon, in der alten Zeit. In ägyptischen Pyramiden gibt es in etwa die gleichen Vierecke, die entstehen durch die Sonne, wenn sie durch viereckige Öffnungen draußen fällt. Wenn man sich, was du gerade gesagt hast, genau durch den Kopf gehen lässt, dann existiert keine Zeit mehr.«
    »Aber ich habe nur dreißig Jahre gelebt.«
    »Und wenn es dreihundert Jahre wären, was dann? Was dann?«
    »Ich würde gern noch ein bisschen länger leben, Konterrevolution.«
    »Um in die Umerziehung durch Arbeit zu gehen? Wenn ein Mensch nur für die Umerziehung durch Arbeit weiterlebt, was für einen Sinn soll das haben?«
    »Ich kann abhauen, ich kann um mein Leben spielen, ich kann auch in der Stimmung sein, meinen Knast voll abzusitzen. In zwanzig Jahren bin ich erst fünfzig, da kann ich noch heiraten.«
    »Nach zwanzig Jahren Knast willst du versuchen, das Leben eines normalen Menschen zu führen? Seit wann hast du denn solche Fürze im Kopf?«
    Wang Er wurde knallrot, die Tür knarrte, ich sprang auf und holte mir abgekochtes Wasser. Wang Er drehte sich um und ging in die Zelle und schob mich, den Bottich in der Hand, vor sich her. Dröhnend schloss sich das Eisengitter wieder. Nach einer Weile bekamen wir von unserem Zuständigen die Anweisung, die Arbeitsplätze aufzuräumen und auf dem Kang, aufrecht sitzend und mit untergeschlagenen Beinen, die Renmin ribao zu studieren.
    »Da kommt eine Besichtigung«, vermutete der alte Bai. »Letztes Mal kamen sie von einer Bank, diesmal, wer weiß, von welcher Einheit sie diesmal kommen.«
    Ein bunter Menschenstrom ergoss sich in den ersten Stock, an unserem hinteren Fenster vorbei. Es ging stockend voran, Finger zeigten auf uns, als wären sie im Zoo.
    »Haben die auch Eintritt bezahlt?«, platzte Wang Er heraus, was die anderen zu spitzen Schreien veranlasste.
    »Ihr seid wohl lebensmüde?«, brüllte der Wachsoldat.
    »Das waren die Frauen, ihre Stimmen haben uns scharf gemacht«, sagte der Große Drache, »heute Nacht wissen wir beim Wichsen wenigstens, woran wir denken sollen.«
    Der gute Xie kauerte am Fuß der Mauer, den Kopf zwischen den Knien, aber er war noch zu erkennen.
    »Das ist doch der Xie!«, kam eine Stimme von dem hinteren Fenster, »Kommen Sie einmal her!«
    Der gute Xie wartete demütig mit hängenden Armen am Fenster.
    »Kennen Sie mich?«
    Der gute Xie kniff seine kurzsichtigen Augen zusammen und erklärte erschrocken: »Sie müssen entschuldigen, ich habe keine Brille auf, wer sind Sie denn, wenn ich fragen darf?«
    »Ganz schön vergesslich«, die Stimme lachte laut, »du hast auch ein Heute! Arbeite und ändere dich, Gefangener Xie!«
    »Ja, ja«, stotterte der gute Xie, er schwankte, ich sprang ihm zur Seite.
    Der Menschenstrom zog lärmend weiter, ein Wirbel nach dem nächsten.
    »Verdammte Scheiße, die paar Minuten dauern länger als ein paar Jahrzehnte«, sagte Wang Er, »Konterrevolution, wie viele Gesichter waren das?«
    »Mindestens ein paar hundert«, antwortete ich, »die im Käfig und die draußen begaffen sich gegenseitig, sag selbst, hat der Kerl, der da eben unseren guten Xie provoziert hat, hat der nicht ausgesehen wie ein wildes Tier?«
    »Du schweifst ab.« Wang Er schüttelte den Kopf. »Ich denke noch über das nach, was du heute morgen gesagt hast, diese kleinen Leute, die sich an die Regeln und Gesetze halten und an einem besonders heißen Tag ein Gefängnis besichtigen, als wäre das ein Feiertag, so einen Freudentanz führen die hier auf, daran kann man erkennen, wie wenig Geschmack sie an ihren normalen Tagen

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