Für ein Lied und hundert Lieder
hatte! Ein Verrückter konnte in einem Gefängnis herumschreien, so viel er wollte, wenn ein Verrückter jemanden umbrachte, es machte nichts, aber konnte jemand, der nach Gedichten verrückt war, wirklich verrückt sein?
Das wilde Tier in mir sprang schreiend aus mir heraus; als ich zum ersten Mal »Das Liebespaar« laut vortrug, war es die Szene, wo der Junge seine Mutter in Stücke reißt. Mein Publikum duckte sich unbewusst weg und hielt sich die Ohren zu, als gelte es, einem Bomber auszuweichen. Ich vergaß alles um mich herum, ich heulte und schrie, zog die Töne immer weiter in die Länge, ich hatte den Lesungsort schon zweimal überwunden, im Nu wurde aus dem Gefängnis der Drehort des »Requiems«. Ich reckte den Hals, die Leute mussten an einen wütenden Gockel denken. Und während ich diese schrecklich lauten Variationen zu Ende brachte, packte ich in die Intervalle zwischen dem langgezogenen Heulen dicht aufeinanderfolgende Schimpftiraden, ein richtiges Trommelfeuer.
Der Wachhabende und der Gefängnisarzt kamen zweimal angelaufen, jedes Mal sahen sie, wie der gute Xie mich wie Gottvater um die Hüfte hielt und mir mit einer runzligen Hühnerbrust das Maul stopfte.
»Er ist nicht mehr ganz richtig im Kopf«, betonte er jedes Mal wieder, »sein Herz rast, sein Blutdruck ist zu hoch, er kann keine Anspannungen mehr ertragen!«
»Gib ihm ein paar mehr Schlaftabletten, damit er sofort das Maul hält!«, befahl der Wachhabende schimpfend, »habe schon seit Jahrzehnten keinen solchen Schreiesel mehr gesehen.«
Am Morgen des nächsten Tages wurde eine große Vollversammlung des Gefängnisses abgehalten, um gegen Knasttyrannen vorzugehen. Wieder spielte ich die Hauptrolle bei der Kampagne, während meine Feinde sofort in eine andere Zelle kamen und gelobt wurden. Alles ging nach dem gesetzlichen Prozedere vonstatten, allen voran Gefängnisdirektor He und die Spezialeinheit der hier stationierten Superintendenten der Staatsanwaltschaft begannen, nacheinander die Delinquenten zu untersuchen, protokollierten die Geständnisse und waren ganze zwei Tage beschäftigt. Am Vormittag des dritten Tages kam die Reihe an Wang Er, er war noch keine halbe Stunde weg, als er vom Wachhabenden in die Zelle zurückgeprügelt wurde. Er schüttelte die Fußfessel, strahlte über das ganze Gesicht und sagte: »Konterrevolution, sie wollten, dass ich dich entlarve, es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre umgefallen.«
»Mir doch egal«, lachte ich kalt.
»Das Material auf dem Tisch war reichlich dick«, sagte er mit einer entsprechenden Geste, »das reicht, um dir noch acht draufzupacken, was haben sie mir nicht gut zugeredet, von wegen, den Mut zu einer Anzeige zu haben und meinen Kopf zu retten.«
»Mir doch egal«, wieder lachte ich kalt.
»Ich hätte dich so gern denunziert«, Wang Er redete wie im Traum, »wenn ich mich damit hätte retten können, hätte ich dich bestimmt ins Verderben geschickt.«
»Hau ab.«
»Ich haue nicht ab, du bist der letzte Freund, den ich in meinem Leben habe«, sagte er mit einem boshaften Lachen, »du willst, dass ich mit vollem Bewusstsein in den Tod gehe, aber ich will das nicht.«
Ich starrte ihn an. Ganz langsam wurde mir klar, dass sein Kopf schon ganz von Reif bedeckt war. Unwillkürlich wollte ich die Hand ausstrecken und ihn berühren, aber ein stechender Schmerz fuhr mir durch den Arm. Ich hatte keine Hände!
»Wu Zexu überschritt den Pass bei Shao/über Nacht war weiß sein Haar.« Eine Arie aus einer Pekingoper tauchte in meiner wirren Erinnerung auf.
»Wovon redest du?«
»Vom Pass zwischen Leben und Tod.«
»Du meinst …« Wang Er packte meine Schulter, meine Lider waren schwer, meine Seele hatte mich schon verlassen. In diesen paar Tagen hatte ich andauernd Unmengen von Grippemitteln geschluckt, Wang Er hatte die anderen angetrieben, sie beim Gefängnisarzt zu besorgen. Grippemittel lullten einen ein. Die häufigen Dämmerzustände lösten mich aus der grausamen Wirklichkeit. Ich lag wie ein alter Putzlumpen unten an der Wand, im Magen brannte ein beißendes Feuer, ich hatte die Augen geschlossen und schluckte und schluckte die Magensäure, die mir aufstieß. Der gute Xie sagte: »Iss ein bisschen Gebäck, das hält es unten.«
Ich hörte mich knirschend kauen. Jemand schlug mir heftig auf die Schulter, ich machte die Augen auf, es war der alte Bai.
Er drehte sich mir zu, hob seine beiden gefesselten Hände, tätschelte mein Gesicht und schärfte mir ein:
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