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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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finden.«
    Ich nickte: »Du würdest ein Leben, wie es die meisten in dieser Gesellschaft führen, überhaupt nicht aushalten, daran kannst du erst ermessen, wie gut es ist zu sterben.«
     
    Es war entsetzlich schwül, die Menschen waren wie eingeweicht in einem schmierigen Waschhaus, aus dem sie nie wieder herauskommen würden. Die Haut runzelte sich, ein weißer Flaum schimmelte über sie, und doch, in uns drinnen hegten wir ein namenloses Feuer.
    Wang Er vertrieb sich die Zeit mit Prügeln, Ji Hua und ich hingegen machten ein anderes Schlachtfeld auf, wir diskutierten. Wir hatten auch keine Ahnung, in welcher Richtung wir uns aus einem Berg praktischer Probleme, die man bis zur Philosophie abstrahieren musste, herauskämpfen sollten. Hinterher mussten wir, weil die Qualität unserer normalen Arbeit darunter litt, beim Tütenkleben nacharbeiten, der ganzen Zelle wurden Briefe und Dokumente nicht ausgehändigt, Fernsehen war gestrichen, der Tabak und die Lebensmittel.
    Die Meute war außer sich, Boxkämpfe und Schwarzhandel waren an der Tagesordnung, wenn jemand nicht zufrieden war, schlug er einfach nach Lust und Laune den Kopf eines Felldiebs an die Wand. Und wenn es von der anderen Seite zurückwummerte, fingen beide Seiten an zu »telefonieren«, dabei ging es ausschließlich ums Fremdgehen oder um Flirts – so fragte zum Beispiel die eine Seite: »Hei, wo bist du?«
    Die andere Seite antwortete: »In Shanghai, im Bett deiner Alten.«
    Von dem guten Xie abgesehen, hatten alle schon Bekanntschaft mit dem Elektroknüppel und den Bodenfesseln gemacht, selbst der weichherzige Regierung Tong war, als er Dienst hatte, einmal in die Zelle gekommen, hatte eine heldenhafte Szene gemacht und alle einer Vollkörpermassage mit dem Elektroknüppel unterzogen. Bücher waren in einem derart lodernden Höllenofen ein Luxusartikel, man hatte kaum ein paar Seiten durchgeblättert, und es wurde einem schwindlig. In den »Annalen der Reiche Ost-Zhous« [48] werden unentwegt Staatsbankette abgehalten, ich hasste es, dass es nicht möglich war, die Seiten, auf denen gekochte Ochsen und geschlachtete Schafe und das Zerreißen von rohen Schweineschultern beschrieben waren, selbst herauszureißen und zu fressen. Eines Nachts wurden sämtliche mit Leim gefüllten Schalen von einem unbefugten Maul leergeleckt; um diesen Kriminalfall aufzulösen, organisierte Wang Er einen ganzen Tag lang die gesamte Belegschaft; und in einer weiteren Nacht hatte der Wache schiebende Dieb Glück und erwischte eine große Maus, er brach ihr die Hinterbeine und verschlang sie mit Haut und Haaren.
    Angesichts des zweifachen Hungers des Körpers und der Seele appellierte Wang Er, neben den heftigen Aktivitäten weiche sportliche Aktivitäten zu entwickeln. Häufig stand Wettwichsen auf dem Programm, der Gewinner bekam ein Fruchtbonbon. Ich habe nicht daran teilgenommen, aber bevor ich verlegt wurde, hatte ich mit einem alten Arzt der chinesischen Medizin aus der Nachbarzelle bereits über ein halbes Jahr Gesundheitsübungen für die Hoden gemacht. Als spiele man mit den typischen Fitness-Kugeln aus Eisen knetete man jeden Morgen und jeden Abend einmal den Hodensack, mit der linken und der rechten Hand jeweils dreihundertmal, das sollte, wie es hießt, verschiedene Wirkungen haben, von der Stärkung der Nieren über die Klärung des Gehirns, eine gesunde Gesichtsfarbe bis zum Vertreiben des Hungers, die Übung war über tausend Jahre alt.
    Eines Nachts hatte ich Wache, saß angelehnt irgendwo und übte mich im Luftanhalten, als mich auf einmal eine große Taschenlampe ableuchtete und fest auf meinem erhabenen aufgerichteten Teil stehen blieb: »Haha, hab ich dich erwischt!«
    »Erwischt, wobei, Regierung Bai?
    »Das ist gegen die Vorschrift! Du Wichser! Aber ich werde dich nicht zur Ordnung rufen, du Strolch.«
    »Ist es jetzt schon ein Verbrechen, wenn man das eigene Ding mal anfasst?«
    »Du, du …«, der Fettsack da über mir keuchte einen halben Tag herum, bevor er es endlich herausbrachte: »Bist du auch ein Dichter, du Schwanzlurch?«
    Es war eine der seltenen Nächte, in denen der Mond vollkommen rund ist, der Wachsoldat und der Schatten des Mondes überschnitten einander zufällig, als wären sie schon halb über die Schwelle zum Himmel hinüber. Ich hatte Glück in dieser sonderbaren Nacht, ich hatte keinerlei Strafe am Hals, und in den folgenden Tagen kramte ich den selbstgemachten Stift heraus und pries dieses Wunder – genau wie ein

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