Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
einen halben Takt hinterherhinkte. Das Fenster wurde eingetreten, mein linker Fuß trat ins Leere, während den rechten der Staatsanwalt umklammerte. Er schlug mit dem Mund heftig gegen den Fenstersims, die blutverschmierten Goldzähne glänzten.
    Ich war ein untergegangenes Schiff, das wieder geborgen wurde. Eine Gruppe Polizisten stürzte mit der Tür herein, irgendwer musste einen Elektroknüppel gezückt haben, aber Liu Wenrou hielt ihn zurück: »Nur keine Umstände, ein Elektroknüppel zeigt bei dem keine Wirkung!«
    Der Staatsanwalt lief eine Ewigkeit traurig und mit einem Waschlappen auf den Goldzähnen herum, dann erklärte er vor allen Leuten: »099, du wirst der Strafe des Gesetzes nicht entgehen, denk nicht einmal im Traum daran.«
    Den ganzen Körper mit Wunden wie mit Fischschuppen bedeckt, kam ich in die Zelle zurück. Erst jetzt erfuhr ich, dass Wang Er verlegt worden war. Hände und Füße waren zusammengebunden zu einer »Reitstange«, krumm gefesselt war er hinausgehumpelt, sein Ende war nicht mehr fern, in diesem Leben würde er sich, wie es aussah, nicht mehr aufrichten können.
    Von der anderen Seite der Wand kam ein trauriges Stöhnen, es klang wie eine kurze Arie am Sterbebett eines bösen Dämons.
    »Da schreibt einer mit Blut an seine alte Mutter«, sagte der alte Bai, »der Wachsoldat sagt, es sei ein Räuber, der schon wie oft gemeldet hatte, er wolle einen Brief schreiben, aber er hat nie die Erlaubnis bekommen, also ritzt er sich jeden Tag mit Zahnstochern etwas in den Bauch, bis er aus dem Bau kommt und er genug Tusche zum Schreiben hat.«
    »Hat der keine Angst, dass seine Mutter in Ohnmacht fällt, wenn sie so einen Brief zu Gesicht bekommt?«, meldete Ji Hua Zweifel an.
    »Das sind Briefe an zu Hause, die kann man nicht wegschicken«, seufzte der alte Bai und hob die mageren Achseln, »manchmal habe ich auch daran gedacht, so einen Brief zu schreiben, aber ich habe keine Frau, und meine Mutter ist längst gestorben, ich weiß nicht, wem ich meine Gefühle anvertrauen sollte. Das ist anders als bei euch Dichtern, ihr jammert ja ständig herum, ob ihr einen Grund habt oder nicht.«
    Ich lachte lautlos und bitter, brauchte eine Ewigkeit, um einen Satz zu bilden: »Wann habe ich herumgejammert?«
    »Weiß der Himmel.«
    »Nur der Teufel glaubt an den Himmel«, murmelte Ji Hua. Mir fiel ein, dass Wang Er mir eine ganze Reihe von Todesbriefen diktiert hatte, dann stand ich auf und tastete mit dem Fuß an der Mauer entlang nach meiner Kangmatte, fand aber nichts.
    »Wang Er hat sie mitgenommen«, sagte der alte Bai, »Leute, die sich in die Hölle aufmachen, sind auf einmal genauso sentimental wie Dichter.«
    Wütend schaute ich ihm in die Augen. Der gute Xie vermittelte sofort: »Wenn die Inspiration weg ist, kommt sie zurück, geh nicht darauf ein!«
     
    Ein paar Wochen war ich stumm, dann kehrte meine Stimme allmählich zurück, der stechende Schmerz beim Essen zog sich gute vierzehn Tage hin. Ein Glück, dass mich der gute Xie fütterte und mich mit einem Lachen immer ermutigte, mehr zu essen. Aber ich brauchte für das Kauen und Schlucken eines einzigen Bissens mehrere Minuten; wenn man das zusammenrechnete, musste er mich bei jeder Mahlzeit wenigstens anderthalb Stunden füttern. Ich habe den guten Xie einmal gefragt, ob dieses ständige Lachen ihn denn nicht ermüde. Er sagte nein, jedenfalls ermüde es viel weniger, als von morgens bis abends mit Wang Er zusammen zu sein, allerdings habe er ein wenig Muskelkater in der Hand. Ich sagte, wenn er es nicht mehr aushalte, solle ein anderer übernehmen. Ein anderer übernahm, und der gute Xie blieb dabei und wischte mir den Schweiß ab. Einmal blieb mir ein Klumpen Reis im Hals stecken, ich erstickte fast, und die Tränen schossen mir aus den Augen, der gute Xie streckte hastig seine Hand aus und streichelte mich. Vor Schreck bin ich hochgefahren, und die Reisbällchen schossen wie Holzkohleasche über den Boden.
    In meinem Bauch brannte der Hunger lichterloh, aber etwas herunterzubringen war schwieriger, als Eisen zu schmieden. Schließlich bin ich fett geworden; wie ein Rundholz, das in einem toten Tümpel aufquillt, bin ich vom Kopf bis zu den Fersen aufgequollen, vor allem die Handrücken waren flauschig wie ein Mantou; wenn man draufdrückte, kam Wasser. Der Gefängnisarzt gab mir eine Spritze, Medikamente, kontrollierte die Symptome, zog mir die Lider hoch und untersuchte meine Pupillen: »Woher hast du deine Schlaftabletten?«,

Weitere Kostenlose Bücher