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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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sitzen!«, sagte Ji Hua mit ernstem Gesicht.
    »Der Wind hat sie weggeweht!«, schrie der alte Bai. Sein Schrei war kaum verklungen, als das Eisengitter dröhnend aufging, wie eine Herde Gänse streckten wir allesamt unsere sehnigen Hälse aus der Türöffnung, das Klirren von Ketten und Fesseln klang herüber.
    »Eine Warenlieferung«, sagte die Gänseherde niedergeschlagen, und alle zogen die Hälse wieder ein.
    »Tag allerseits!« Ein splitternackter, kräftiger Kerl kam in die Zelle und zeigte gleich, was mit ihm los war: Wie er da als ein Ritter aus alten Zeiten vor dem Gitter stand, die gespreizten Beine von Fesseln und Ketten gestreckt, verneigte er sich mit gekreuzten Händen in alle Richtungen: »Mao Shengyong, zu Diensten, Todesstrafe wegen Raub, die gesetzliche Überprüfungsfrist von fünfundzwanzig Tagen bereits abgelaufen, wenn ein Fehler vorkommt, bitte ich das vielmals zu entschuldigen unter der Maßgabe, dass der Scheißkerl, der ich bin, nur noch ein paar Tage zu leben hat.« Die Meute warf ihm kalte Blicke zu, nur ich rief ihm zu: »Guter Auftritt!«
    Der Kerl sagte blöde: »Was für ein Auftritt?«
    »Das elektrische Eisengitter ist das Bühnenbild für unser Drama, unter Gegenlicht, in Zukunft werde ich mir an dir ein Beispiel nehmen.«
    Ein Druck gegen die Hüfte des alten Mao, und seine Beine rumsten gegen den Rand des Kang. Er landete neben mir: »Seid Ihr auch ein Todeskandidat? Diebstahl? Raub? Oder Mord?«
    Die Meute war freudig überrascht und schüttelte sich schließlich vor Lachen. Der alte Bai nahm ihn auf den Arm: »Der, der hat alles auf dem Kerbholz, er wollte einen Umsturz.«
    »Du bist Konterrevolutionär?«, nickte der alte Mao, »kein Wunder, du bringst kein normales Wort heraus.«
    Ich sah mir diesen Mao Shengyong genau an, er hatte nichts am Leib als einen dunkelroten Schlüpfer: »Und dein anderes Zeug?«, wunderte ich mich.
    »Als ich das Todesurteil bekam, habe ich alles verschenkt«, antwortete Mao Shengyong heldenhaft, »nackt kommt man, nackt geht man, wenn ich in der Unterwelt ankomme, erspare ich den kleinen Teufeln die Formalität der Leibesvisitation.«
    Die Meute hatte so ihre Zweifel, der alte Mao hob die Achseln und schüttelte ein etwa zeitschriftengroßes Stoffbündel heraus, er wickelte es aus der Pappe heraus, und zum Vorschein kam ein Hemd und eine lange Hose.
    »Das ziehe ich für den langen Weg an«, erklärte er pathetisch. Danach zog er aus der Tasche des Hemdes zwei Fotos und hielt sie wie einen Schatz vorsichtig mit beiden Händen fest.
    »Das ist ein Bild meiner ganzen Familie, es fehlt nur meine jüngere Schwester, sie hat damals in Kanton gearbeitet. Und das ist ein Bild von meiner jüngeren Schwester, hübsch, nicht? Wer die Interna nicht kennt, könnte doch meinen, das sei meine Freundin. Aber wo gibt es eine Freundin, die so gut wäre wie die eigene Schwester!«
    »Das ist also deine ganze Familie?«, sagte der gute Xie und hielt mit seinem Mitleid nicht hinter dem Berg, »es wird bald Herbst, ich beantrage eine staatliche Bettdecke, du musst aufpassen, die Nächte werden kühl.«
    »Herzlichen Dank!«, sagte Mao Shengyong mit einer Faust in der offenen Hand sich verneigend, »ich habe Angst vor Läusen, ich schlafe lieber ohne.«
    Als wir ein paar Tage zusammen hausten, begann mir dieser Mao Shengyong unweigerlich leidzutun, er hatte Muskeln und Knochen aus Eisen, und sein Auffassungsvermögen war sehr groß. Auf seinem täglichen Trainingsprogramm stand Hochsprung, quer zu seinem Standort konnte er fast lautlos auf die Mitte des großen Kang fallen, dabei war seine Haltung ausgesprochen ansehnlich, man wurde nicht müde, ihm zuzusehen. Und auch im Schlaf hatte er eine Haltung, als habe er dafür eine spezielle Ausbildung bekommen: Kaum hatte er sich hingelegt, richtete er das Gesicht Richtung Himmel, der Körper war gerade wie ein Gewehr.
    Als der alte Bai und ich aus den Fesseln herauskamen, gratulierte uns die Meute reihum. Der Glückwunsch von Mao Shengyong bestand darin, dass er meine Arbeitsnorm an Tüten übernahm, er klebte an einem Tag 3000 von den Dingern, nicht mehr und nicht weniger.
    Ich fühlte mich sehr in Verlegenheit.
    »Du bist ein Literat, ich bin ein Kämpfer, ich arbeite, und du öffnest mir die Augen.«
    »Du hast schon den Durchblick.«
    »Mir blieb nichts anderes übrig. Ich bin ein Räuber, das ist das einzige Geschäft, das ich verstehe, das ist Schicksal.«
    »Schicksal? Raub ist dein Schicksal?«
    »In der alten Zeit

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