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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Schwein da für einen Unsinn«, sagte ich verärgert, »ich habe gestern Nacht von deinem Tod geträumt, und wer im Traum stirbt, wird leben, hast du das kapiert?«
    »Na, dann lass uns doch eine Wette abschließen! Wenn ich nach einer Weile noch nicht weg bin, dann bekommst du beim Mittagessen meinen Fleischnapf; wenn doch, dann treibt der gute Xie meinen Gewinn für mich ein.«
    »Ein Fleisch, bei dem es um Leben um Tod geht, so ein Fleisch würde ich nicht anrühren«, ließ der gute Xie sofort jemand anderem bescheiden den Vortritt.
    »Dann lässt du den Fleischnapf halt eine Weile auf dem Sims am hinteren Fenster stehen, dann kommt meine Seele zurück und probiert ein bisschen davon«, sagte Mao Shengyong und schluckte das Wasser herunter, das ihm im Munde zusammengelaufen war, »bei dieser Wette knurrt einem ja richtig der Magen, verdammte Scheiße, da soll man sterben, und sie lassen einen vorher nicht einmal satt essen.«
    »Ich habe die Stäbchen gerade erst aus der Hand gelegt und habe schon wieder Hunger«, sagte ich und ließ die Tüte sinken, die ich in der Hand hielt, »du hast mir so viele Tage geholfen, ich sollte wenigstens mit dir plaudern, bis wir uns am Mittag wieder mit Energie volltanken können.«
    »Wenn du nicht arbeitest, wirst du alle damit anstecken, hast du noch nicht genug den Knasttyrannen gespielt?«, mahnte der alte Bai elegant, »ich bin größer als du, aber meine Mantous beim Frühstück waren kleiner als deine.«
    »Meine waren noch kleiner.«
    »Meine waren ungefähr so groß wie Hühnereier.«
    Jetzt beschwerten sich alle auf einmal.
    Mao Shengyong machte einen tiefen hungrigen Zug und seufzte unvermittelt: »Bekommt man nicht einmal eine Henkersmahlzeit? Himmel!«
    Seine Worte waren noch nicht verklungen, als aus dem Innersten des Gefängnisses verschwommen ein dröhnendes Donnern kam, Mao Shengyong erschrak, kam gar nicht dazu, den Rauch, den er eingeatmet hatte, wieder auszuatmen, und fing würgend an zu husten. Aber dieser Hustenanfall, der Lunge und Herz zerriss, verhinderte nicht, dass in regelmäßigen Abständen dieses bedrückende Donnern hereindrang. Wie von zwei mit einer Eisenkette verbundenen Eisenkugeln, die alle zwei, drei Sekunden an der Kette rollten, dazwischen herrschte Stille. Schließlich hörten wir in einer solchen Stillephase das leise, schwebende Rufen eines Totengeistes, das Nachschleppen von Fußfesseln und das knarrende Rückschnappen des eisernen Riegels am Haupttor des Gefängnisses. Die Meute konzentrierte sich darauf, die Zellennummer derer, die sich da auf den Weg machten, zu zählen: »Zelle dreizehn, zwölf, zehn, neun, acht«, dachte der alte Bai unwillkürlich laut vor sich hin, »Wang Er ist diesmal bestimmt dabei!«
    Ich hielt den alten Bai mit einer Hand auf, stieg vom Kang und goß Mao Shengyong Tee nach. Der Kerl schaute mich fest an, als ob irgendetwas hinter mir ihm zunicke. Erst als ich ihm die Teeschale an die Lippen hielt, erwachte er wie aus einem Traum und nahm sie in die Hand, die Oberfläche der Flüssigkeit zitterte heftig, ich stützte die Schale, insgeheim wetteifernd dachte ich daran, sie ihm wegzunehmen und ihn zu füttern; aber er hielt sie fest umklammert, sein durchsichtiges Hemd hob die wunderschönen Konturen seines Körper hervor, von der Stirn, von der der Schweiß ausdünstete, bis zu den Wangen hingen zahllose winzige Wasserfälle.
    »Sieben!«, sagte er und stellte mit einem Ruck die Teeschale hin, »gleich kommt Zelle sechs!«
    »Wenn so viele gehen, bist du wenigstens nicht allein!«, sagte der gute Xie. Mao Shengyong ließ meine Hand los, griff nach dem Gitter und stand auf. Die Zigarrenglut war längst in einer kleinen Wasserpfütze ausgegangen, aber er hob weiter instinktiv die Hand, um daran zu ziehen. Ich gab ihm wieder »Feuer«. Und während ich das tat, spielte sich in der Nachbarzelle der gleiche Vorgang ab, mit dem sich jemand auf den Weg machte – wobei das Rasseln der Kette allerdings ungewöhnlich leicht war, als sei ein plötzlicher Wind in eine Reihe von Glöckchen am Dachvorsprung einer alten Pagode gefahren.
    »Ein guter Mann«, sagte Ji Hua anerkennend und absichtlich laut in das Dröhnen des Eisengatters, »er benutzt nicht die Sänfte.«
    »Ich werde auf meinen eigenen Beinen da hinausgehen!«, sagte Mao Shengyong und wandte den hochaufragenden Kopf.
    In dieser Einsamkeit, die sich länger hinzog als hundert Jahre, war Mao Shengyong schon hundertmal gestorben, und alle schauten schweigend

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