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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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unwirklich-wirkliche Drama spielte sich zigmal vor uns ab, der Ölkopf tauschte wie viele Spiegel aus. Einmal, er führte gerade wieder seine militärischen Übungen im Spiegel vor, als sich in sein lärmendes Bersten ein schriller Schrei drängte, der Mann im Spiegel hatte im Luftdruck der Explosion die Beine Richtung Himmel geworfen. Der bis an die Zähne bewaffnete Mörder erstarrte: »Warum ist der Spiegel nicht kaputt?«, sagte er verwundert.
    Die Zusammenarbeit zwischen dem Ölkopf und mir dauerte keinen Monat, dann löste sie sich aus gegenseitiger Abneigung auf. Der Grund war, dass ich beim Gehen nicht aufgepasst hatte und gegen seine Brüste gestoßen war. Am Anfang spielte er die beleidigte Unschuld vom Lande und jagte mich davon. Entschuldigungen hatten keinen Erfolg, am Ende alarmierte das Ganze den Wachhabenden.
    Ich bekam es mit dem Elektroknüppel, aber er beruhigte sich immer noch nicht. Dann, als die Frau im Spiegel totgeschossen war, hatte ich die Ehre, seine zweite Zielscheibe zu sein. Mit seiner vorgestellten Waffe hat er mir unzählige imaginäre Löcher in den Leib geschossen; schwerer zu ertragen war allerdings, dass er jeden Abend vor dem Fernseher seine Schießübungen durchführen musste und das dröhnende Geballer dabei.
    Als er sich auf diese Weise über einen Monat gerächt hatte, kam allmählich ein Nordwind auf, der den Mörder des Großväterchens Krösus trocknete und er sich wegen seiner zu knappen Klamotten und der Unterernährung eine Erkältung zuzog. Das Fieber stieg auf fast 40 Grad. Aber niemand wagte zu helfen. Der Ölkopf, von Gott und der Welt verlassen, seufzte in seinem Tran mit weit geöffneten Augen dreimal das Wort: »Mama!« Und dann war die Reihe an der grausamen Frau, die ihrem Sohn über ein halbes Jahr kein Futter geschickt hatte: Sie wurde zu seiner dritten Zielscheibe. Nachdem er eine Woche herumgeballert hatte, bestand der Inhalt der Briefe, die er nach Hause schickte, darin, einer alten Frau, die längst kapituliert hatte, sieben große Pistolen gleichzeitig an die Schläfe zu halten.
     
    Meine Schlafstelle war keine dreißig Zentimeter breit, wenn ich nachts auch nur einmal nicht aufpasste, bestand immer die Gefahr, vom Kang direkt in die Abtrittsgrube zu rollen. Deshalb gab ich mir beim Saubermachen der Toilette immer besondere Mühe. Wasser drüber, eingeseift, mit dem Lappen etwas abgewischt, dann wieder Wasser, und erst dann in die Schüssel Zahnpasta gedrückt und mit der Zahnbürste in der Hand diesem großen stinkenden Maul zu neuem Glanz verholfen.
    So ist mein fruchtloser Sauberkeitsfimmel entstanden. Am meisten hasste ich es, wenn sich einer auf meine frisch geputzte Toilette zum Scheißen setzte. Das Resultat meiner Arbeit war im Nu und sozusagen bei lebendigem Leib ruiniert. Am meisten fürchtete ich die Freitage, an denen es Fleisch mit Zwiebeln gab, das Verdrücken von dem Zeug war ja noch die reine Freude, aber Kot und Urin bekamen diesen beißenden Zwiebelgeruch. Selbst wenn ich mir die Nasenlöcher mit Zahnpasta vollstopfte, konnte ich es nicht verhindern, dass mir die sauren Tränen in Strömen hinunterliefen. Es war die Hölle. Wenn ich dann am nächsten Morgen aufstand, machte ich mich wie in Trance an die gleiche Arbeit wie tags zuvor, die Toilette und die Papiertüten wurden zu meinem einzigen Lebensinhalt!
     
    Auf der Fensterbank klapperten die Fressnäpfe, ich hob den Kopf, da hörten sie auf. Ich sagte, ohne zu überlegen: »Wang Er, du wirst doch nicht aus der Unterwelt abgehauen sein, um Lebewohl zu sagen?«
    Die Fressnäpfe klapperten wieder, mir lief es eiskalt den Rücken runter, ich hörte genau hin, eigentlich waren es meine Zähne, die da klapperten.
    »Macht mich bloß nicht an!«, murmelte ich, »ihr Geister, die ihr nach eurem Abgang hier zwischen den Mauern hin und her irrt.«
     
    Der alte Jiang war wegen Korruption hier, früher war er sehr reich und gewöhnt, wie die Made im Speck zu leben. Er konnte nicht kacken, wenn andere zusahen, diese schöne Tugend einer zivilisierten Gesellschaft wurde im Knast zu einer unvernünftigen Marotte. Der alte Jiang hatte zehn Tage Verstopfung, er war schon kohlschwarz am ganzen Körper, nur die Augäpfel waren rot wie bei einem brünftigen Rammler. Das Dilemma eines Menschen aus der Oberschicht war für das monotone und fade Leben hinter Gittern eine unerschöpfliche Bereicherung, alle brachten den alten Jiang reihum aus der Fassung, den ganzen Tag wurde mit Begeisterung über

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