Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
Heuchler!«, sagte er deprimiert.
    »Da unten warten ein paar Milliarden Menschen darauf, dich in Empfang zu nehmen, der Tod, das ist ein ganz schöner Rummel.«
    Mao Shengyong erstarrte. Erst nach einer halben Ewigkeit sagte er: »Du bist so grausam, ich hätte nicht gedacht, dass ein studierter Mensch so grausam ist.«
    Jetzt war es an mir zu erstarren. Mao Shengyong redete weiter: »Du hast nicht die geringste Angst vor mir.«
    »Aus was für einem Grund sollte ich Angst vor dir haben?«
    »Na, dann schlaf halt«, Mao Shengyong lachte bitter, »ich werde jetzt für keine Minute und keine Sekunde mehr die Augen schließen.«
    »Morgen wirst du dich noch nicht auf den Weg machen«, ich streckte mich und setzte weicher hinzu: »Ich habe so eine Ahnung.«
    Ich fing an zu träumen, und doch schien es nicht wie ein Traum. Ich hörte, wie das Eisengatter dröhnend aufging, ein langer, aus zwei Reihen von Rotfellen gebildeter Korridor zog sich vom Horizont bis in unsere Zelle, am Ende des Korridors stand groß, die Hände auf dem Rücken, der Wachhabende. Mao Shengyong wechselte mit Mühe in das weiße Hemd und die blaue Hose, ein Ärmel blieb in einer Fessel hängen, er drehte den Handrücken, aber er bekam ihn nicht los. Er hatte seine Arbeit hier in der Regel sehr flink erledigt, es war die reine Zauberei. Zwei Rotfelle hoben eine Sänfte und nahmen ihn hoch, und als er mit dem Gesicht Richtung Himmel blickte, riss er rasch mit den Zähnen an dem in der Fessel verhedderten Hemd, der Ärmel riss mit einem Ruck, sein Kopf kam schief durch den abgerissenen Ärmel wie eine Missgeburt, die vor Schmerzen nicht leben will.
    »Verfickte Scheiße!« Er brüllte vor Wut, die Woge seines Zorns durchbrach die Zellendecke, und der aus den Rotfellen gebildete Korridor stieg rauschend in die Luft. In der Ferne, im Paradies fielen Schüsse, Gehirnfallschirme öffneten sich nach und nach und schwebten herab.
    Die Glocke zum Aufstehen schrillte, die Meute sprang kreuz und quer hoch wie kaputte Sprungfedern, durch die Reste meines Albtraums stierte ich zu Mao Shengyong hin, er hatte tatsächlich sein Totengewand angelegt.
     
    Nach dem Frühstück war auf einmal strahlender Sonnenschein, innerhalb und außerhalb der Mauer wälzten sich die Hitzewellen, und die Gefangenen in diesem Grillofen wussten nicht ein noch aus. Mit nackten Armen machten wir die Papierkartons auf, verteilten die Ware und begannen unser gewohntes Tagwerk.
    »Scheißtag!«, schimpfte der alte Bai, »da versteckt sich die Sonne wochenlang, und kaum ist sie raus, schon bringt sie einen um.«
    »Mein Latz ist wie ein Dampfkochtopf«, sagte Mao Shengyong, »mein Schwanz ist gar.«
    »Na, dann bist du als Einziger voll bewaffnet«, nahm ich ihn auf den Arm, »Hemd, lange Hose, fesch, nicht zum Aushalten fesch. Wenn du jetzt noch eine Krawatte umbindest, dann siehst du aus wie ein Gentleman auf dem Weg zu einer Cocktailparty.«
    Mao Shengyong riss ein Stück Papier ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn, huschte von meiner Seite den Kang hinunter, setzte sich mit dem Rücken gegen das Eisengatter und lachte komisch: »Das Luftloch hier lasst ihr mir, Konterrevolution, tut mir leid, ich kann jetzt nicht mehr die Arbeit für dich machen.«
    Für eine Weile konnte man in der Zelle eine Nadel fallen hören. Nach einer halben Ewigkeit sagte ich mit einem gezwungenen Lachen: »Macht nichts.«
    Als der gute Xie die bedrückte Stimmung bemerkte, wechselte er das Thema: »Es ist Herbstanfang, die Herbsthitze ist unbändig wie der Tiger, aber dauert ja nicht länger als ein paar Tage.«
    »Ich bin selbst einen halben Tag nicht zu bändigen«, nahm Mao Shengyong den Faden auf, »Konterrevolution, sei so gut, mach mir einen Tee!«
    Ich schüttelte meine letzten Teekrümel heraus und rührte sie in eine Porzellanschale mit heißem Wasser hinein. Mao Shengyong nahm sie mit beiden Händen, stellte sie auf den Boden und zog eine Packung Zigarren der Marke »Juwel«, wie es sie speziell im Gefängnis gab, heraus, nahm sich eine und zündete sie sich mit dem Zunder, den er sich schon früh am Morgen gerieben hatte, an.
    »Wenn ich diese Letzte geraucht habe, mache ich mich auf den Weg«, sagte er im Brustton der Überzeugung.
    »Die kriegst du ja nie zu Ende«, tröstete ich ihn, »du hast dein ganzes Zeug verschenkt, was machst du denn, wenn es auf einmal kühler wird?«
    »Wenn die Kugeln mir den Schädel aufreißen, dann wird es gründlich kalt werden.«
    »Was redest du dummes

Weitere Kostenlose Bücher