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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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zu. Aber unsere große, schwarze Gefängnistür blieb verschlossen, sie hätte aufgehen sollen, aber sie blieb zu. Das Donnern hatte unseren Schützengraben übersprungen und drang weiter vor. Als sich in der anderen Nachbarzelle noch einmal die gleiche Tragödie des Abschieds abspielte, rief einer vor Freude: »Mein Fleischnapf hat gewonnen!!«
    Die Meute stieß mit den Stirnen aneinander, und man beglückwünschte einander. Mao Shengyong aber legte Hemd und Hose ab und sagte mal so und mal so seufzend: »Ich kann noch einmal eine Portion Fleisch essen.«

Zelle 5
    Zu einer Diskussion mit Mao Shengyong kam es nicht mehr, denn ich wurde ebenfalls in Marsch gesetzt. Am gleichen Nachmittag noch ließ Tang, der Säufer, den alten Bai und mich holen und verkündete, wir würden verlegt. Unser Zeug wurde auf der Stelle von den anderen zusammengerollt, und wir wurden zwangsweise getrennt. Ich kam in die Nachbarzelle, und der alte Bai, der gerade über zehn Jahre bekommen hatte, ging ganz krumm weiter: »Vielleicht sehen wir uns nie wieder«, dachte ich, aber der Kerl hat sich nicht einmal mehr umgedreht.
    Mein Herz war noch in der alten Zelle, aber mein Körper war bereits eine Viertelstunde in die neue Umgebung eingetaucht. Die Meute hier arbeitete und flüsterte miteinander, aber keiner suchte das Gespräch mit mir. Die Zelle glich in ihrer Struktur der alten wie ein Ei dem anderen, nur die Darsteller waren ausgetauscht worden, noch vor einem halben Jahr war ich aus dieser Zelle in die andere verlegt worden.
    Unwillkürlich suchte ich nach bekannten Gesichtern, der Patriarch in dieser Zelle, der Große Vogel Sun, hielt sich den kugelrunden Schmerbauch und saß, streng und mit untergeschlagenen Beinen auf dem Platz des Zellenchefs und warf einem Typ namens Ye, mit dem ich mich hier drin herumgeschlagen hatte, große Kuhaugen zu. Den Leuten unter dem Dachvorsprung blieb nichts anderes übrig, als möglichst schnell mit mir Freundschaft zu schließen. Großvogel Sun hob seine geschäftige Beamtenmiene und belehrte mich: »Du magst ja in Zelle sechs der große Boss und Knasttyrann gewesen sein, in Zelle fünf musst du den Schwanz einziehen und dich wie ein Mensch benehmen. Die Zelle hier untersteht dem Befehl von Regierung Li, du wirst behandelt wie ein Neuankömmling, deine Schlafstelle ist neben der Toilette, und die Hygiene der Toilette und drum herum ist deine Aufgabe. Außerdem muss hier drin jeder jeden Tag drei- bis fünftausend Tüten falten; wenn du das nicht schaffst, kannst du wählen zwischen Rückenfessel und Elektroknüppel. Aber was du in der Zeit, wo du eine Rückenfessel trägst, nicht schaffst, musst du hinterher in Überstunden nacharbeiten, eine Strafe ist kein Grund, um sich vor der Umerziehung durch Arbeit zu drücken.«
    »Sind wir hier bei der Umerziehung durch Arbeit?«
    Der Großvogel starrte mich mit seinen Schildkrötenaugen nur an, und ich war augenblicklich still und hatte das Gefühl, ich sei in ein riesiges Rattenloch geraten. Ausgerechnet in dieser Nacht sprang mit einem Platschen eine ein paar Zoll lange Riesenratte aus dem Abtritt und verletzte dabei irrtümlich das Vögelgerät von unserem Großvogel, der beim Scheißen eingeschlafen war.
    Der Großvogel wimmert die halbe Nacht herum und hat eine ganze Menge Rattenblut vergossen. Am nächsten Morgen in aller Frühe war sein Unterleib um das Vielfache angeschwollen, es sah aus wie ein Affenkopf. Als der Arzt kam, rasierte er ihm die Schamhaare ab, desinfizierte und verband die Stelle. Die Meute stand mit langen Hälsen da und schaute zu. Um sich das Lachen zu verkneifen, schwoll allen der Halsansatz violettrot an, genau wie dem Säufer mit seinen zusammengezogenen Brauen.
     
    Wir schreiben jetzt das Jahr 1997, es ist Hochsommer, ich schreibe immer noch an meinem »Protokoll«. Schreiben ist wie Knast, es scheint kein Ende zu nehmen, soll mein Leben so zu Ende gehen? Oft steigt der Impuls in mir hoch, dem Ganzen ein Ende zu machen. Ich lache gerne, aber häufig weiß ich nicht genau, warum ich lache.
     
    Mein Bettnachbar, der Ölkopf, war ein Mörder, laut Gerichtsarzt geistig behindert. Er wurde bereits fünf Jahre hier festgehalten und war wahrscheinlich der Gefangene mit der meisten Knasterfahrung hier drin. Er hat sich angewöhnt, wenn er mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt fernsieht, schweigend zu lächeln. Am Anfang erschien mir das seltsam, und ich habe ihn gefragt, worüber er lächelt. Dann hat er sich lächelnd mir zugewandt,

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