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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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alles flexibler wird und sich verändert!«
     
    So viele Jahre später sitze ich immer noch an diesem Tisch und erinnere mich, als hätte ich mich die ganze Zeit nicht vom Fleck gerührt. Vielleicht ist die erste Hälfte des Lebens wirklich nur ein flüchtiger Vormittag, ein fauler Schlaf bis um zehn, man weiß noch gar nicht genau, was Leben eigentlich heißt, da gibt es schon Mittagessen.
    Michael hatte mir ein T-Shirt geschenkt mit dem Aufdruck »Fegefeuer«, ich trug es in Polizeigewahrsam, in Untersuchungshaft und zweimal bei der Verbüßung von Haftstrafen, ich bringe es nicht übers Herz, es auszuziehen. Die wilde Zeichnung darauf ist mein Schutzengel in bösen Zeiten gewesen und hat mich immer wieder aus dem Haufen normaler Verbrecher herausgelöst.
    Nachdem er dieses schwarze Zauberwort gepflanzt hatte, trieb sich Michael Day im ganzen Land herum und blieb gleich für ein paar Jahre weg.
     
    Ich habe sicher eine ganze Menge vergessen oder ein paarmal die Abfolge der Geschehnisse vertauscht. So sehr sind mir die Razzien und Hausdurchsuchungen der Sicherheitsbeamten zur Gewohnheit geworden. Am 10. Oktober 95 fuhren um zwei Uhr nachmittags drei Polizeiautos vor, und ein gutes Dutzend Agenten stürmte in mein Haus. Alles ging nach »Recht und Gesetz« vor sich, sie zeigten mir ihre Ausweise, die ganze Durchsuchung und Beschlagnahme wurde penibel mit der Kamera festgehalten, alle Schriftsachen bei mir (einschließlich meiner Manuskripte, Briefe und Notizen) wurden konfisziert, selbst das dritte Kapitel dieses Buches, das den Titel »Weiterleben« trug, war weg – über 30 000 Schriftzeichen, das sind fast gut siebenhundert westliche Seiten und fast ein Jahr harter Arbeit.
    Mein Atem ging ganz normal, ich unterschrieb lächelnd und fragte: »Darf ich etwas zum Anziehen mitnehmen?«
    Antwort: »Nein!«
    Ich ließ mit einem unguten Gefühl alles, was ich bei mir trug, zu Hause zurück und war darauf gefasst, für lange Zeit bei Vater Staat zu speisen. Die Polizisten lachten.
    Abends um zehn verließ ich die Polizeistation von Baiguolin in Chengdu wieder und wurde höflich aufgefordert, »im nächsten Monat die Stadt nicht zu verlassen«. Gott sei Dank, mein Kopf saß noch auf den Schultern, ich konnte noch schreiben.
    Ich verfluchte mit den unflätigsten Ausdrücken, die mir einfielen, meine eigene Unachtsamkeit, und dann holte ich alles aus mir heraus, um alles noch einmal zu schreiben. Ohne Inspiration, ohne Leidenschaft, der Stift kratzte das Papier wund, an manchen Tagen konnte ich mir nur ein paar hundert Zeichen abringen. Nichts half, ich riss die Augen auf, mir lief der kalte Schweiß in Schauern herunter, nichts löste die Verstopfung. Aber ich wettete meinen Atem, ich würde mich nicht geschlagen geben, ich würde auf diese Weise meine einzigartige Art zu leben bezeugen – und ich wettete mit dem Staat. Wenn ich das alles niederschrieb, würden meine Kinder wenigstens nicht glauben müssen, ihr Vater wäre ein Aufschneider.
     
    Da fällt mir Li Yawei ein, ein robuster Kerl mit langem wirrem Haar, oft mit einem roten Band um den Kopf, sein Schatten sah aus wie eine hochgewachsene Megäre. Früher hat er mit Michael Day bei uns gesessen und gesoffen, Schnaps, von Mittag bis tief in die Nacht. Im April 89 bin ich mit ihm zusammen nach Beijing, Revolution lag in der Luft, doch nach ein paar Tagen haben wir uns wieder davongemacht. Li Yawei war arm und frustriert, aber er hielt an seinen reinen poetischen Träumen fest.
    Als ich das »Massaker« aufnahm, war Li Yawei auch da, er machte die Percussion, schlug in die Gitarrensaiten, zerschlug Schnapsflaschen, schrie »Ich leiste Widerstand«. Um ihn nicht zu belasten, habe ich bei den Verhören später immer behauptet, ich würde ihn nicht kennen, nach einer Weile hatte ich wirklich das Gefühl, dass er überhaupt nicht existierte.
     
    Ich lebte in einem endlosen Albtraum, vom Zentralfernsehen bis zum Regionalfernsehen, auf allen Kanälen wurde im Zusammenhang mit dem 4. Juni nach flüchtigen »Kriminellen« gefahndet. Selbst die Fernsehstation von Fuling »ermahnte« die Rädelsführer der Ortsgruppe der Unabhängigen Liga der Universitätsstudenten in einem fort, sich bei der Öffentlichen Sicherheit zu stellen. Auf den Bahnhöfen, an den Kais, in den Geschäftsvierteln, überall kursierten allgemeine Bekanntmachungen: Soldaten, die in ihren großen Stahlhelmen wie Roboter aussahen, patrouillierten knarzend hin und her – und die Sonne brannte auf

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