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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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gebrüllt, die Leute haben geklatscht und mir zugejubelt. Diesmal sind die Chinesen ganz anders als früher, das ist etwas Großes. Die Studenten, ganz normale Leute aus der Stadt, keiner denkt an sich, es ist alles ganz uneigennützig …«
    »Das ist eine kollektive Halluzination, ein Massenwahn«, redete ich ihm dazwischen.
    »Es hat etwas Religiöses«, Michael Day bekam feuchte Augen, »obwohl es keine Idole gibt und keine Lehre. Historisch gesehen sind das alles nur kleine Menschlein, die in einem Nu wieder verschwinden, keiner von ihnen hatte den Gedanken, die Macht zu übernehmen, sie haben nur das allgemeine Durcheinander genutzt, kannst du mit so einer reinen Begeisterung dienen?«
    »Nein.« Ich war gereizt. »Aber ich brauche auch keinen dahergelaufenen Kanadier, der mir beibringt, wie man sein Land liebt!«
    Michael Day umfasste zitternd seine Arme und sagte mit heiserer halblauter Stimme: »Ich liebe nicht das Land, denn im Zentrum des Landes steht die Regierung, aber ich liebe meine Freunde, und ich habe halt mal hier in dieser größten Mülltonne der Welt die meisten Freunde. Ich habe mich nie an die saubere und einsame Stille in Kanada gewöhnen können – vielleicht passt ja eure muffige Hitze besser zu mir.«
    Es war schon fast Mitternacht, als ich wie ein Gespenst aufstand, mich wieder hinlegte, aufstand, mich wieder hinlegte, mich endlos im Bett herumwälzte. Barfuß schlich ich mich ins Wohnzimmer und stellte den Fernseher an. Du Xian und Xuan Fei, die beiden besten Sprecher des Zentralfernsehens, erschienen auf dem Bildschirm, sie trugen Schwarz, und ihr Tonfall klang nach Beerdigung, als sie das »kaiserliche Edikt« über die entschiedene Befriedung der konterrevolutionären Unruhen verlasen.
    Danach tickerte die von Chen Xitong, dem Bürgermeister von Beijing, unterschriebene Verhängung des Ausnahmezustands als Untertitel über den Schirm und ausnahmslos alle Bekanntmachungen der Volksbefreiungsarmee. Es war zu sehen, dass Du Xian geweint hatte, da tauchte Michael Days Löwenkopf hinter mir auf. Ich drehte mich um und ging und ließ ihn vor dem Fernseher alleine.
    Wieder lag ich auf dem Bett. Ein anderes Ich ging aufrecht durch die Wand und in den Bildschirm hinein. Ich stieß Du Xian und Xuan Fei von ihren Stühlen und machte selbst den Nachrichtensprecher. Der Titel meiner Nachrichten hieß »Erschießt Li Peng, rettet die Bürger«. Meine Lippen wurden zu einer Gewehrmündung, ich ballerte wahllos in die Menge, ich trampelte mit Springerstiefeln über die Köpfe weg. Ich schnappte mir ein Megaphon, widerstand der formlosen Kraft, die mich plattmachen wollte, A Xia fing an zu schreien, brach mir die Fäuste auf, ich hatte ihr die Arme grün und blau gedrückt.
    Ich entschuldigte mich geistesabwesend, die Sterne in meinen Augen wurden einer nach dem anderen abgeschossen. Die Morde, die dann geschahen, waren ein Wendepunkt in der Geschichte. Genau an diesem Punkt war ich gerade auf meinem Selbstzerstörungskurs angekommen, beide Kreise trafen sich hier, ein reiner Zufall, ganz ohne mein Zutun musste ich plötzlich als Held herhalten, obwohl auch Helden in Panik geraten wie Ratten, die keinen Spalt finden, in dem sie verschwinden können.
    »Die Zeit sucht sich ihre Helden«, das war es.
    Ein kurzer Impuls kann unter günstigen Umständen einen großen Sturm entfachen, aber die Geschichte ist wie ein Richter, der einen Fall untersucht, sie lehnt es ab, aus irgendeiner Gefühlsanwandlung heraus eine Präferenz für eine Zeit, einen Ort, eine Person oder eine bestimmte Tätigkeit zu formulieren. Und für das Vortragen von Gedichten braucht man ein Maximum an Ich-Vergessenheit. Ich rieb mir voller Ungeduld die Hände, den Mund, massierte mir die zitternden Knie, schließlich stand ich auf, riss das Abdecktuch von dem Rekorder der Marke »Daili« und verkündete in klarstem Chinesisch: »Wo kangyi! Ich leiste Widerstand!«
    Das Haus war eingestürzt, ich saß in einem Schutthaufen, mir gegenüber die Berge, die Kaiserstadt, meine Stimme wie mein Körper wurden von hundert Lautsprechern hinausgetragen: »Wo kangyi!« Michael Day kam zu mir und antwortete mir in einer Sprache vom anderen Ende der Welt.
    »Kangyi!«
    »Widerstand!«
    Ich hatte die Bühne betreten.
    Und obwohl diese Bühne kaum größer war als ein Mauseloch, setzte ich bereits mein Leben auf Spiel. Ich wurde von Kugeln verfolgt, wohin ich auch dachte, heulten sie mir entgegen, bis der Himmel dröhnend über mir hing wie ein

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