Für ein Lied und hundert Lieder
aufzuschlitzen. Dann konnte man weitersehen.
Als der alte Chinakenner Michael Day sah, was los war, machte er seinen Rucksack einfach selbst auf, breitete alles auf dem Boden aus und verbeugte sich lächelnd wie ein amerikanischer Gorilla.
Er wollte Tang Xiaodu in der Menschenmenge im Tiantan-Park treffen, sie wollten jeweils das gleiche Buch in der Hand halten, und wenn sie sich im Gedränge aneinander vorbeischoben, einander die »Ware« in die Taschen stecken. Diese Art der heimlichen Übergabe haben sie sich wahrscheinlich bei chinesischen Spionagefilmen abgeschaut.
Am Tag des 4. Juni hatte ich mit Michael Day auf der Post einen Brief aufgegeben, auf den Straßen patrouillierte immer mehr Polizei. Die Einwohner hatten sich fast alle zu Hause verkrochen, neben einem räudigen Hund auf drei Beinen waren wir das Auffälligste, das unterwegs war. Michael blickte finster und schaute nicht rechts und links wie ein Märtyrer auf dem Weg zur Hinrichtung. Wenn er einen Soldaten sah, senkte er den Kopf und spuckte aus – und bedauerte, dass ihn niemand festnahm.
Die Renminribao machte mit der Schlagzeile auf »Aufstand niedergeschlagen«. In dem Artikel darunter wurde die noch viel erstaunlichere Meldung gebracht, der Ungar Imre Nagy [15] sei rehabilitiert worden; und die Seite mit den internationalen Nachrichten brachte die Meldung »50 000 südkoreanische Studenten demonstrieren für den Rücktritt der Regierung«. Dieser Kontrast, der wirkte wie ein Kampf zwischen Geschichte und Wirklichkeit, machte einen betroffen und grimmig.
»Und wer ist der Imre Nagy Chinas?«, fragte ich ohne Hintergedanken.
»Das ist nicht wichtig«, sagte Michael, »wichtig ist, dass diese Parteiredakteure das Einzige getan haben, was ein Intellektueller mit einem Rest von Gewissen tun kann, auch wenn sie damit den Job risikieren. Du hast ja auch getan, was du konntest, und in deinem Gedicht das erste Zeugnis abgelegt für das Massaker.«
Ich warnte ihn, vorsichtig zu sein mit dem, was er sagte: »Wenn man in diesem Polizeistaat einen Augenblick nicht aufpasst, dann hat man Ärger am Hals!«
Die folgenden zwei Wochen waren ein Albtraum, ich begleitete Michael mit Li Yawei nach Nanchuan, Chongqing und Fengdu, neben den überfallartigen Untersuchungen der Sicherheitsbehörden, die wir über uns ergehen lassen mussten, gab es zwischen uns ungewöhnlich hitzige Diskussionen.
Im flussabwärts von Fuling gelegenen Fengdu befand sich der Legende nach der Eingang zur achtzehnstöckigen Hölle, Michael und ich hockten rechts und links des Eingangstors zur Totenstadt auf den Hacken wie zwei leuchtende Türgeister.
Ich sagte, ich würde lieber sterben als im Knast sitzen, doch Michael meinte fachmännisch, das Gefängnis sei gegenwärtig für chinesische Literaten der kürzeste Weg zu internationaler Anerkennung: »Die Literaten der Sowjetunion und Osteuropas sind da keine Ausnahme. Zwar hat Bei Dao nicht im Gefängnis gesessen, aber er hat nie aufgehört, für andere politische Gefangene wie Wei Jingsheng von Pontius zu Pilatus zu laufen.«
Ich kam schlecht drauf: »Ich bin weder Bei Dao noch Wei Jingsheng, aber ich weiß, dass diese Leute von den Parteiorganisationen ständig unter irgendeinem Vorwand bei mir vor der Tür stehen, wenn ich irgendwelche Schwierigkeiten mache, dann ist Sackgasse, klar!?«
»Nicht wenige Künstler haben gesessen, aber sie haben deshalb ihre Überzeugungen nicht aufgegeben.« Michael nahm mich auf den Arm.
Ich sah rot: »Du hast keine Ahnung von China, du weißt nicht, was hier los ist, Beijing und die Provinzen, das sind zwei Paar Schuhe, und hier, Sichuan, das ist die Provinz der Provinz, hier sind die Berge hoch, und der Kaiser ist weit! Es braucht ja gar nicht mal ein Umerziehungslager zu sein, zwei Tage im Polizeigewahrsam, das reicht ihnen, um dir die ersten zwei Hautschichten abzuziehen!«
»Glaub mir, Yiwu«, murmelte Michael, »egal, wie weit ich gehe, du bleibst mein Freund, oder? Ich werde alles daransetzen, um dir zu helfen. Lass uns um den Segen des Herrn beten, dass das alles bald vorbei ist und du in Frieden leben kannst, versprich es mir. Dass Menschen wie du überleben, ist ein Wunder, verstehst du, was ich meine, Yiwu? Du bist der Stolz der chinesischen Intellektuellen. Und ich will so lange wie möglich in China bleiben, nicht nur wegen meiner Forschungen zur Lyrik, ich will die Niedergeschlagenheit, die in diesem Gefängnis herrscht, am eigenen Leib spüren, ich will spüren, wie
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