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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Dutzend Leute ist durch die Gegend geflogen. Wir alle sind mit blutendem Herzen hinter den überall auf dem Boden herumrollenden Fressnäpfen hergejagt und haben in unserer Wut den Alten verdroschen, dass er gelernt hat, wie ein Hund zu kriechen, und am Ende nicht mehr wusste, was Lehm und was Fleisch war. Danach hat er oft im Schlamm draußen gestanden, auch wenn es geregnet hat, und zum Himmel hinaufgeschaut und ›Vorsitzender Mao, Vorsitzender Mao …‹ vor sich hin gebetet und abwechselnd geheult, gelacht und sich gegen die Brust und an den Kopf geschlagen. Dieser dumme Büchermensch, wegen einer literarischen Beschwerde von dreihunderttausend Zeichen ein Leben lang so in der Scheiße zu sitzen, selbst in seinem Wahnsinn, selbst im Tod will er noch seine Beschwerde einreichen, das ist wirklich wie in dem alten Sprichwort: ›Krieger sterben in der Schlacht, Literaten für ein mahnendes Wort.‹«
    »Sind Sie eine Reinkarnation von Zhang Guangren?«, sagte der alte Weißkopf ernst zu mir, »ich habe gehört, ’89 war es immer noch der letzte Schrei, auf dem Tiananmen Unruhe zu stiften und sich bei der Kommunistischen Partei zu beschweren.«
    Ich war eine Weile sprachlos, dann bin ich vor Wut rot angelaufen: »Ich habe Sie nicht gekränkt, Alter.«
    Es läutete zum Essen, ich bildete mit den anderen verblüfft einen Kreis, schlürfte meine Tofu-Suppe und klaubte die halbrohen Reiskörner aus dem Napf. Der Nordwind heulte, Brodem stieg auf, es war, als würden die Seelen der Toten am Himmel und unter der Erde mit Stäbchen gegen ihre Schalen klopfen. Wo war ich da nur hingeraten? Politische Gefangene vom 4. Juni, ein Kaiser aus einer armen und entlegenen Gegend, der alte Weißkopf und Hu Feng, der Schüler Lu Xuns, überall willkürlich hochgezogene kleine Hochöfen und Liu Jiting, Zhang Xiting und dann auch noch Huang Lian, der Rebellenkommandeur, der bis heute den Vorsitzendenden Kaiser Mao glühend verehrte und liebte und die Art und Weise nachahmte, wie der Vorsitzende las, indem er zwischen den Zeilen Unterstreichungen und Anmerkungen machte. Hier war die Geschichte augenscheinlich stehengeblieben und schien doch gleichzeitig die Realität überholt zu haben und im nächsten Jahrhundert angekommen zu sein. Die Seelen der Toten und die Menschen waren ineinander verwickelt, so viel Menschen und Dinge, die nichts miteinander zu tun hatten, waren hier an einem Ort versammelt … war das ein Gefängnis? War das Gefängnis ein Ort, an dem Fossile aufbewahrt wurden, oder war das Gefängnis selbst ein Fossil?
     
    Li Bifeng und Xu Wanping hatten sich mit mir für einen Rundgang im Hof verabredet, der politische Instrukteur starrte uns mit den Händen auf dem Rücken von oben herab an. Danach wurde der Rundgang zu einer täglichen Pflichtübung. So liefen und redeten wir eine Stunde, bis wir von den Kommissionsmitgliedern ins Gebäude gescheucht wurden.
    Der traurige und laute Pfiff ertönte dreimal, der Gruppenunterricht begann. Jeder Gefangene hatte einen kleinen Schemel, und sie saßen in einer Reihe im Durchgang der Zelle. Der Unterrichtsgruppenführer und der Produktionsgruppenführer hielten nacheinander eine Rede und unterzogen die Worte und Taten der Umerzöglinge an diesem Tag einer Kritik und stellten Fragen. Meine Trödelei wurde, ohne dass ein Name genannt wurde, einer harschen Kritik unterzogen. Anschließend drängten sich alle um das Wort, alle redeten wie Wasserfälle, aber wenn man genau hinhörte, waren das nur persönliche Umerziehungsfloskeln nach der erneuten Kollektivierung, derzufolge vor allem und jedem der Staat kam. Der alte Weißkopf sagte leise zu mir, das sei die Standpunktarbeit der Gefangenen, durch die sie sich zu Stahl läutern sollten. She Wanbao, ein Konterrevolutionär vom 4. Juni, war eigentlich Direktor einer Kreisbank, er hatte seine Profession nicht vergessen, als er ins Gefängnis kam, er büffelte weiter seine Bücher über Rechnungswesen und wurde von dem alten Zhang, dem Unterrichtsgruppenführer, namentlich kritisiert. Der gute She gab die Ehre auf der Stelle zurück: »Noch ein paar Monate, und ich komme nach Hause, man hat mein Strafmaß nicht verringern können, und ich habe es auch nicht gewollt, da kannst du dich auf den Kopf stellen, das hilft einen Scheiß!« Das brachte ihm die einhellige Kritik der Schwerverbrecher ein. Der alte She legte sich das Buch unter den Hintern, streckte seine Beine aus und setzte ein Lächeln auf, ganz so, als sei er immer noch der

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