Für ein Lied und hundert Lieder
Direktor einer Bank.
Ich wusste nur zu genau, dass alles Unheil aus dem Mund kommt, wie man so sagt, und hielt einfach die Klappe. Ich hielt durch bis genau acht Uhr, dann schrillte die Glocke, auf die wir schon so lange gewartet hatten – wie ein Stoßtrupp stürzten die Gefangenen in den Speisesaal, um dort ein Video zu sehen. Der Fernsehschrankschlüssel war in Händen des stellvertretenden Gruppenleiters der Kommission. Bevor er aufschloss, baute er sich erst neben dem Schrank auf, ließ den Blick chefmäßig über die Versammlung schweifen und blies unentwegt in seine Pfeife. Als Stille eingetreten war, holte er zu seiner Vorrede aus: »Laut den Bestimmungen der Gefängnisverwaltung darf nur an Wochenenden und Sonntagen ferngesehen werden, sonst in der Regel nicht, aber da alle so positiv zur Regierung aufgeschlossen und in erstaunlicher Weise die Produktionsvorgabe erfüllt haben, hat die Führung der Produktionsbrigade Gnade vor Recht ergehen lassen und die Unterrichts- und Diskussionszeit verkürzt, damit wir in den Genuss von Fernsehunterhaltung kommen – in der Hoffnung, dass alle ernsthaft die Sorgen und die Fürsorge von Partei und Regierung verinnerlichen!«
Die Videos bestanden in der Regel aus uralten Kriegsschinken, manchmal zeigten sie auch drittklassige Pornos und verführten die Meute, sich die Klamotten loser zu machen; und wenn die Hände vorne in den Hosen steckten und ihr Spiel begannen, erhob sich hier und da ein Stöhnen und Seufzen. Ich sah dem Treiben ein paar Minuten von der Seite aus zu und zog mich dann rot vor Scham zurück.
Auf dem Korridor des Gebäudes traf ich Lei Fengyun, wir redeten über unsere Fälle, und der alte Lei sagte: »Du bist gerade zur rechten Zeit gekommen, ich bin die ganze Zeit dabei, im Gefängnis eine Gruppe ins Leben zu rufen, die zum einen die Rechte und Interessen der politischen Gefangenen schützen und zum anderen in aktiven Kontakt mit der Außenwelt treten soll, damit die Leute etwas von unserem Kampf erfahren.«
Ich seufzte: »Und warum muss man das organisieren?«
»Damit es auf der historischen Bühne der Zukunft Redefreiheit gibt. Wir sind seit Jahren von der Welt abgeschnitten, politische und Nachrichtenzentren wie Beijing sind weit weg, extrem schnell wird man nicht mehr beachtet und vergessen, und jetzt komm mir keiner mit der Unterstützung der internationalen Menschenrechtsorganisationen. Ein unbekannter, marginaler Konterrevolutionär zählt gar nichts, aber eine Gruppe von politischen Gefangenen kann, auch wenn sie am Rande steht, die Außenwelt zwingen, ihr Aufmerksamkeit zu schenken.«
Aus dem Birnengesicht des alten Lei sprühten ein paar Lachfunken, ein idealistisches Leuchten drang durch den Spiegel: »Der Mensch muss eine Hoffnung haben, wer keine Hoffnung hat, den wird das Leid zerbrechen.«
»Kommt Ihre Frau Sie oft hier besuchen?«, versuchte ich, das Thema zu wechseln, »sie hat doch schon draußen genug am Hals, wenn Sie jetzt auch noch Ärger machen, was soll aus ihr werden?«
Er starrte mich an, wollte etwas sagen, ließ es aber.
Ich seufzte: »Sind Sie sehr enttäuscht von mir, guter Herr Lei?«
»Sie sind nicht der politische Gefangene, den ich mir unter Ihnen vorgestellt habe, ’89 sind viele hier hereingespült worden, viele waren in ihrem Innersten keine politischen Gefangenen.«
»Auch Sie sind kein geborener politischer Gefangener. Wenn es nicht zu den Studentenunruhen gekommen wäre, hätten Sie als Postgraduierter vielleicht längst ihren Abschluss gemacht. Im Knast zu sitzen, das ist das Schicksal eines Menschen, das hat nichts mit Planung zu tun. Wir können uns nicht mit der Elite vom Tiananmen vergleichen, wir können nicht sagen, ich habe über zehn Jahre gesessen, aber der erst vier oder zwei Jahre, da kann man nichts machen, die anderen haben sich die besten klimatischen, geographischen und menschlichen Bedingungen unter den Nagel gerissen, das muss von den Geschichtsbüchern festgehalten werden. Ehrlich gesagt, bevor ich im Knast gesessen habe, hatte ich im Grunde keine Ahnung von Politik, bis heute habe ich keine nennenswerten reiferen politischen Ansichten. Ich bin Individualist, das Vagabundentum steckt mir noch im Blut, und nur als es zu einer dramatischen Kollision zwischen der Staatsideologie und meiner Eigenart als Dichter gekommen ist, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu wehren und sogar bis zur Selbstzerstörung Widerstand zu leisten. Ich kann keine Regierung akzeptieren, die aus
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