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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Tinte gesoffen hat, hält er sich für den Allerschlausten und hat doch die Stirn, unter den Augen der Regierung private englische Briefe weiterzugeben! Das ist nicht einer der normalen Regelverstöße, das sind illegale Beziehungen zum Ausland, das ist der Ausverkauf nationaler Geheimnisse an die internationalen reaktionären Mächte! Irgendein Professor Peter? Das ist ganz klar ein Wolf im Schafspelz, das ist ein englischer Spion! Lei Fengyun, du hast richtig gehört, diesmal haben wir Dieb und Diebesgut in Händen, Leute wie du können noch so viel herumzetern und -tanzen, es wird dir nichts helfen. Das Amt für Strafvollzug hat beschlossen, Lei Fengyun für eine Weile in Einzelhaft zu stecken, bis das Resultat der Übersetzung des Experten für äußere Angelegenheiten des staatlichen Amtes für Reiseangelegenheit vorliegt und er erneut streng gemaßregelt wird. Wenn er mehr Strafe verdient, wird er sie bekommen!«
    Die Meute zollte donnernden Applaus.
     
    Während der siebzehn Tage, die der alte Lei bereits in Einzelhaft saß, haben die Konterrevolutionäre von ’89 einen kollektiven Hungerstreik beschlossen, um damit ihren Protest kundzutun. An diesem Nachmittag habe ich gerade Flötespielen geübt, als Li Bifeng gelaufen kam und mir von hinten heftig auf die Schulter schlug: »Alle haben einen Hungerstreik beschlossen, und du sitzt hier und bläst auf dem Ding hier herum! Du flötest!«
    Ich nahm wohl oder übel meine Flöte und ging zu meinem Bett zurück. Unter den über 300 Gefangenen der zweiten Produktionsbrigade waren wir ein kleiner Haufen, wenn wir auf die anderen Gruppen aufgeteilt würden, wären wir nur noch einzelne Sandkörner.
    »Nicht auf diese Weise mit der Regierung«, warnte der alte Weißkopf im Bett unter mir, »ich habe das früher selbst gemacht, ich war noch nie an der Reihe gewesen für das Strafbett, wo sie einen zu einem großen Paket verschnüren, den Mund aufzwingen und ein paar Leute einem mit Gewalt den kochend heißen Reis einflößen. Mein Gott, dieser Geschmack! Es ist ein trostloses Dasein, wenn man nicht sterben kann!«
    »Wenn du nichts isst, die anderen tun es«, sagte das Parteimitglied Mei Hua, »die Regierung stellt sich immer taub und stumm und wartet, bis ihr vor Hunger umfallt, und dann werden humanitäre Maßnahmen ergriffen, um euch zu retten.«
    Trotzdem, der Pfeil lag bereits auf dem Bogen. Das Mittagessen hatte kaum angefangen, als die Genossen in den verschiedenen Gruppen sich erhoben, in der Mitte des Hofes versammelten, und ein gutes Dutzend Fressnäpfe aufeinanderstapelten. Der Wachhabende sah dem Treiben von oben aus seiner Vogelperspektive einen Augenblick zu, dann drehte er sich herum und ging.
    Anschließend wurde verhandelt. Zunächst stiegen Li Bifeng, Xu Wanping und Hou Duoshu in den ersten Stock zur Brigade hinauf. Es dauerte einen Augenblick, dann war von da oben ein heftiges Gerangel und Gefluche zu hören, die drei verschwanden, mit einem Seil zusammengebunden, in einer der Einzelzellen der Brigade. Danach verhandelte ich allein als Bevollmächtigter mit dem Lehrpersonal und dem Brigadechef. Ich verlangte kategorisch, dass man sich an das erst kürzlich veröffentlichte »Weißbuch über die Umerziehung von Straftätern in China« hielt, in dem es einen Paragraphen gab, demzufolge eine Einzelhaft nicht länger dauern durfte als 15 Tage.
    »Und Lei Fengyun ist jetzt schon siebzehn Tage eingesperrt«, sagte ich.
    »Das Resultat der Übersetzung ist noch nicht da«, antwortete der Lehrer.
    »Das war ein ganz gewöhnlicher Grußbrief«, gab ich mich fachmännisch, »wer auch nur ein bisschen Englisch kann, hat das in ein paar Minuten übersetzt.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Ich habe den Brief gelesen.«
    »Warum hast du das der Regierung nicht gemeldet?«
    »Das sind doch Kinkerlitzchen, was soll ich denn da melden? Einem Arbeiter von draußen einen Brief mitzugeben, das hat hier drin doch Tradition, wer hätte das noch nicht gemacht?«
    Die Fronten verhärteten sich mit einem Schlag.
    »Du bist ein Krimineller, du darfst dich nicht in die Angelegenheiten der Regierung einmischen«, sagte der Brigadeführer mit scharfer Stimme.
    Also musste ich die »Renmin ribao« vorlegen, in der das »Weißbuch« abgedruckt war. Als ich drohte, mich aus dem Fenster zu stürzen, um die Umerziehungspolitik der Partei zu verteidigen, haben sie mich schließlich hinausgeworfen. Überraschenderweise wurde Lei am nächsten Abend aus der Einzelhaft

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