Für ein Lied und hundert Lieder
denn, ich bin aufgetreten.
Yang Wei, der du mir immer nahe warst wie ein Bruder, du rundlicher Junge mit der schlechten Orthographie, wie lange willst du dich noch herumtreiben? Nicht nur du bist von der Geschichte verraten worden, einem Politischen ist in seiner Bedeutungslosigkeit nicht zu helfen. Die endlose Beschattung durch Spezialagenten in Zivil hat aufgehört, heute kümmert sich keiner mehr um dich, du kannst nur für dich selbst Englisch lernen und dich darauf vorbereiten, am anderen Ende des Ozeans als Tellerwäscher zu arbeiten. Du weißt nicht, dass die Öffentliche und Staatssicherheit die Leute, die sich um uns kümmerten, schon ein paarmal gewechselt hat, und jedes Mal, wenn sie gewechselt haben, mussten die Neuen uns von Angesicht zu Angesicht treffen und einen gefühlsmäßigen Kontakt herstellen. In Gesprächen habe ich entdeckt, dass die neuen Beamten viel vergesslicher waren als die alten, manch einem war der berühmte Cao Jian nicht einmal ein richtiger Begriff, dabei war er sicher eine Persönlichkeit, wie sie in ihrem Gewerbe selten ist.
Noch immer im Gefängnis oder schon draußen? Was hat das für eine Bedeutung? Ob man nun lebt oder tot ist, Generationen von Konterrevolutionären, alles nur Staub, namenloser Staub, ohne Anfang, ohne Ende. Wenn auf dem Dreckhaufen der Geschichte ein vereinzelter Keim wächst, ist das schon viel; die es zu etwas bringen, das sind nur eine Handvoll. Und diese Handvoll, sind das nicht alles falsche Herren, die ihre Mantous in Menschenblut tunken? Es stimmt schon, unsere Welt ist eine geschickt für falsche Herren konstruierte Welt.
Kleiner Yang Wei, du bist für immer gegangen, seither hat keiner mehr angerufen und keinen Laut von sich gegeben. Deine nervöse Gereiztheit solltest du auskurieren.
Lassen Sie mich noch einmal allein in das Gefängnis Nr. 3 zurückkehren. Es ist genau 10.00 Uhr abends, plötzlich schrillt die Alarmklingel, der Wachhabende mit dem Gruppenleiter der Kommission im Schlepptau drängt ins Zimmer für den Appell, von draußen wird das große Eisenschloss zugesperrt. Die Meute steigt auf die Betten und ruht sich aus. Ich kann nicht schlafen, sitze auf dem Bett, starre auf die helle Deckenleuchte und denke an meine Angelegenheiten. Ich fange an zu blinzeln, der Wachhabende steht eine ganze Weile vor dem Fenster und beobachtet uns, bevor er lautlos davongeht. Ich ziehe ein Brett heraus, nehme Papier und Stift, weiß aber nicht, was ich schreiben soll. An vielen Abenden tue ich das, immer gleich.
»Der Kopf setzt Rost an«, denke ich. »Feifei, meine Schwester, die schon so lange tot ist, entsteigt dem rostfleckigen Gedächtnis, der Rost verwandelt sich auf der Stelle in Blumen, mit denen ihr Gewand bestickt ist.«
»Ich helfe dir saubermachen, Brüderlein«, sagt sie lachend und greift mir mit ihrem kühlen Finger in die Stirn. Während sie das Hirn, das sie herausholt, sorgfältig reinigt, werde ich langsam klarer. Das war ein vollkommener Tag.
Ich habe gerade ein paar Tage nichts anderes gemacht als gekehrt, mysteriöserweise bin ich bis zum Kontrollraum aufgestiegen, ich brauchte die halbe Nacht nicht aufzustehen. Außer dem Industriemüll, der dreimal die Woche von dazu eingeteilten Gruppen in den Bergen entsorgt wird, ist es meine tägliche Aufgabe, mit einem Buch in der Hand die Wachen, eine Statistik der Anzahl der Esser und der Essensrationen für die verschiedenen Gruppen entsprechend der jeweiligen Arbeitsstärke einzutragen. Gegen Mittag eile ich mit zwei anderen mit dem Reiskorb auf der Schulter und den Suppenkübel hinter mir herziehend zur Arbeitsfront. Kaum durch das Werkstor hindurch, ist die »Frohe Botschaft« überall herum und jede Gruppe schickt von der Arbeit zwei Mann, die Reis und Gemüsesuppe fassen sollen. Ich singe noch immer die Zahlen, veranlasse meine beiden Untergebenen, sich streng an die Gesetze zu halten und sich nicht den geringsten Fehler zu erlauben. Wenn unter der Meute gute Laune herrschte, nannten sie mich respektvoll den Kontrolleur; wenn die Gemüsesuppe dünn ist, wenn zu wenig im Reisnapf ist, dann verdunkelten sich ihre Gesichter, und sie riefen »Fresssack« oder »Abfall-Kontrolleur«.
Wenn der Bottich vor der Zeit zur Brigade zurückgezogen wird, kann man oft jemanden unverhofft treffen und ein Schwätzchen halten. Im Gefängnis Nr. 3 sind viele, die im Rahmen der »schweren Schläge« von 1983 [65] hohe Strafen bekommen haben, der alte Zhong von der Erziehungsbrigade ist ein
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