Für ein Lied und hundert Lieder
Kaltwasserdusche vergessen, meine Hose anzuziehen, lief zwei Runden auf dem Platz und fühlte mich besonders wohl, als würde ich über den Wolken schweben, nur dass ich ausgelassener herumtanzte. Glücklicherweise hat das Li Bifeng, der früh aufgestanden war, rechtzeitig entdeckt, es wurde keine Sensation daraus gemacht. Der gute Li erinnerte sich später: »Zuerst glaubte ich, das Bartgesicht hätte eine weiße Unterhose an, aber sein Spielzeug baumelte unter den Straßenlaternen hin und her und machte mich auf die Tatsache aufmerksam, dass ich keine Unterhose, sondern einen großen weißen Hintern vor mir hatte.«
»Wang Jinxi, der Eisenmann« wurde mein Spitzname im Gefängnis, Wang Jinxi war ein von der Kommunistischen Partei geformtes Modell aus der Arbeiterklasse, seine Maxime war: »Wenn Erdölarbeiter ihre Stimme erheben, wird die Erde dreimal beben!«
Aber viel härter als die Abhärtung des Körpers ist die Disziplin beim Schreiben. Ein paar Artikel, die ich zur rechten Zeit an der Oberfläche zurechtrücke, um mit den möglichen Razzien in der Folgezeit zurechtzukommen. Ich krümme mich unter einem namenlosen Druck, meine Nasenspitze drückt fast auf das Papier. Meine Zeichen sind hingeschmiert wie Ameisen beim Ringkampf, sie kommen hinter den Atem, das handtellergroße Papier steigt in die Luft, wie ein Dieb drückte ich es herunter. Ich bin noch dabei, innen Schriftzeichen einzubauen, durch mein Nadelöhr passen Tausende riesiger Kamele! Und doch: Das Wunder geschieht, ganz langsam, in meinen für die Ewigkeit geschaffenen Augen wird es kein Gefängnis mehr geben, nach ein paar tausend Jahren werde ich die Mauerreste der Gegenwart ausgraben. Das Dao des Himmels bewegt sich im Kreis, jeder Mensch, ob noch am Leben oder schon tot, befindet sich an einem Punkt dieses Kreislaufs und dreht sich mit. Und dann kreuze ich die Arme vor der Brust und bete. Und zuletzt befrage ich das Buch der Wandlungen, das Zeichen, das ich werfe, heißt: kun-Erde-weiblich.
Ich greife zum Stift und halte diesen Prozess fest:
Der alte Wei sitzt im Schneidersitz auf der ersten Etage des Eisenbettes, er macht eine Schachtel Streichhölzer auf und nimmt 49 davon heraus. Er betet, mit geschlossenen Augen, etwa eine Viertelstunde lang, bereitet sich darauf vor, das Trigramm der Wandlungen zu deuten. In der sargförmigen Zelle vertreiben sich die Gefangenen zu seinen Füßen die Zeit. Das Licht ist spärlich, er ist kurzsichtig, Alafawei kann von da oben nicht die untere Hälfte ihrer Körper sehen; er hat nur das Gefühl, dass diese still glänzenden Glatzen durch die Luft schweben, wie gewaltige Fischeier.
Das ist der Anfang des ersten Kapitels einer langen Biographie mit dem Titel »Überleben«, ich habe hier ganz unwillkürlich die Maske des Alafawei aufgesetzt, einer Figur, die in meinen Gedichten wiederholt aufgetaucht ist, ein Zeichen dafür, dass ich meine alte Tätigkeit wiederaufnehme.
Ich nehme an, dass der alte Wei und die Volksrepublik China gleichzeitig auf die Welt kamen, in den Augen dieses Vagabunden zeigen alle Dinge sich in dem gleichen hastigen Abschied begriffen, der Dichter Liao Yiwu eingeschlossen, der im Gefängnis aus dem Lehm von ein paar Generationen modelliert worden ist.
Wer kann dem Tod entgehen?
Eine Kraft, die wir nicht kennen, führt das uralte Menschengeschlecht durch Staaten, Regierungen oder irgendwelche konkreten Herrscher ins Verderben. Ein Zeichen dafür, dass die Spätzeit dieses Verderbens angebrochen ist, ist die beispiellose Bevölkerungsexplosion und der vollständige Verlust an geistiger Fruchtbarkeit. Warum schreiben angesichts eines alles bedeckenden Ameisenstaates, der nur über die Runden kommen will?
Für einen politischen Gefangenen geht es an, wenn er schreibt, geht es an, wenn er im Gefängnis eine Geheimorganisation aufzubauen versucht, es geht an, wenn er passiv auf seine Amnestie wartet, das Risiko auf sich nimmt, Briefe nach draußen zu schmuggeln, es geht an, wenn er nach innen und außen kommuniziert – das alles basiert auf einem Schrecken, der auf einer tieferen Ebene angesiedelt ist als das lange Eingesperrtsein und die körperlichen Qualen: Wir haben Angst, vergessen zu werden. Wir hoffen, dass die da draußen sich daran erinnern und es zu würdigen wissen, dass wir wegen unseres Gewissens, wegen der Gerechtigkeit und der Wahrheit in die Fänge dieser Wirklichkeit geraten sind. Aber es gibt etwas, dem man nicht entgehen kann: Das Vergessen ist ein
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